Kretschmann flüchtet ins Staatstragende

ASYLRECHT Der Bundesrat segnet die von Union und SPD vorgelegte Asylrechtsänderung ab, weil Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident zustimmt. Flüchtlingsvertreter sind empört und wollen klagen

Die Einstufung der drei Balkanstaaten Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie Mazedonien als „sichere Herkunftsstaaten“ hat die Union mit der teilweisen Aufhebung dreier zentraler Elemente des Asylkompromisses von 1993 erkauft. Die Verbesserungen für Flüchtlinge können erheblich sein, die Tücke aber steckt im Detail.

■ Residenzpflicht: Ab dem vierten Monat in Deutschland wird die generelle Residenzpflicht aufgehoben. Asylbewerber und Geduldete können sich ab dann frei innerhalb Deutschlands bewegen – und nicht, wie bislang nur innerhalb eines ihnen zugewiesenen Landkreises oder Bundeslandes. Das Angebot der Union ist aber schwammig formuliert. Es ermöglicht auch weiter, dass Ausländerbehörden Geduldeten „räumliche Beschränkungen“ auferlegen: Wer nicht an seiner Abschiebung mitwirkt, unterliegt dann auch in Zukunft der Residenzpflicht. Ein Wohnsitzwechsel zum Ort eines möglichen Arbeitsplatzes ist auch weiter kaum möglich.

■ Arbeitsverbot: Für zunächst drei Jahre soll die „Vorrangprüfung“ für Geduldete und Asylbewerber entfallen – allerdings erst nach 15 Monaten Aufenthalt in Deutschland. Sie können dann jede Arbeit annehmen, die sie wollen – die bislang vorgeschriebene Prüfung, ob womöglich ein Deutscher für die Stelle infrage kommt, wird abgeschafft. Das Problem: Ob überhaupt eine Arbeitserlaubnis erteilt wird, liegt weiterhin im Ermessen der Ausländerbehörden. Und die meisten Geduldeten unterliegen einem Arbeitsverbot – in Berlin sind es etwa 90 Prozent der Geduldeten. Sie haben von der Regelung nichts.

■ Sachleistungen: Bislang sollen Sozialleistungen für Flüchtlinge „vorrangig“ in Form von Sachleistungen, meist Gutscheinen, ausgezahlt werden. Viele Kreise und Städte allerdings geben schon jetzt Bargeld aus. Künftig sollen Sozialleistungen „vorrangig“ in bar ausgegeben werden, heißt es in dem Papier. Wenn Kommunen wollen, könnten sie also auch an den Gutscheinen festhalten. (cja)

AUS BERLIN CHRISTIAN JAKOB

Er nahm sich Zeit. Fast eine Viertelstunde redete Deutschlands erster grüner Ministerpräsident Winfried Kretschman am Freitagvormittag im Bundestag, bevor er aussprach, was da längst durchgesickert war: dass Baden-Württemberg als einziges grün regiertes Bundesland für eine weitreichende Verschärfung des Asylrechts stimmen werde. Damit tritt in Kraft, was Union und SPD im Bundestag bereits beschlossen hatten: Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien gelten künftig als „sichere Herkunftsländer“. Wer von dort kommt, wird in Zukunft direkt wieder abgeschoben. Seit Jahren hatten Unions-Innenminister diese Regelung gefordert, waren zuletzt aber an der Blockade der Grünen gescheitert.

„Wir wissen um die Ausgrenzung, Drangsalierung und Diskriminierung der Roma auf dem Balkan“, sagte Kretschmann. Doch der sei nicht mit dem Asylrecht beizukommen. Die Bundesregierung verspricht sich von der Reform Erleichterungen für die Kommunen – diese haben zunehmend Probleme, die ankommenden Flüchtlinge unterzubringen. „Es darf bezweifelt werden“, sagte Kretschmann, dass sich diese Hoffnung erfülle, die Flüchtlingszahlen werden hoch bleiben. Die Zugeständnisse, die die Union den Grünen in anderen Asylrechtsfragen macht (siehe Kasten), hätten ihn dennoch zur Zustimmung bewogen. „Das sind substanzielle Verbesserungen“, sagte Kretschmann. „Wir können uns im Sinne der Flüchtlinge und im Sinne des gesellschaftlichen Ganzen nicht versperren“, schloss er.

„Ein syrisches Leben ist mehr wert als das eines Roma“ – auf diese Formel bringt Marko Knudsen den Bundesratsentscheid. Der Rom leitet das Europäische Zentrum für Antiziganismusforschung in Hamburg, gleichzeitig ist er Gründer der „Grünen Gruppe der Sinti und Roma“ und will für die Partei in die Hamburger Bürgerschaft. Er schätzt, dass etwa 90 Prozent der bisher rund 16.000 Asylanträge aus den drei Ländern in diesem Jahr von Roma gestellt wurden. „Die Entscheidung ist hanebüchen, aber das jetzt alles den Grünen in die Schuhe zu schieben, ist nicht ehrlich“, sagt er. Ihn erbost vor allem, dass die Union die Rechtsverschärfung damit begründet hat, künftig anderen Flüchtlingsgruppen besser helfen zu können. „Man macht uns wieder zu Opfern zweiter Klasse – genau wie nach 1945“, sagt Knudsen.

Kretschmann habe einen Grundgesetzverstoß abgenickt: „Die Gleichbehandlung ist ausgehebelt“, sagt Knudsen. Er will gegen den Beschluss klagen, wenn nötig, bis nach Straßburg. „Per Gesetz wird jetzt festgelegt, dass wir politisch nicht verfolgt werden“, sagt Knudsen. Doch das sei falsch: Neonazis, Polizeiübergriffe, Pogrome – „in diesen Ländern werden wir vollständig ausgegrenzt, es gibt keinerlei Teilhabe“. Durch den gesellschaftlichem Antiziganismus lasse sich sehr wohl eine politische Verfolgung begründen. In Deutschland Asyl zu beantragen, sei eine „Überlebensstrategie vieler Roma, um vor dem Winter auf dem Balkan zu flüchten, den sie in Wellblechhütten verbringen müssen“, sagt Knudsen. „Künftig werden dort wieder mehr von uns erfrieren.“