Straffreiheit für Ägyptens Ex-Diktator

URTEIL Ein Kairoer Gericht stellt das Verfahren gegen Husni Mubarak wegen des Todes von mehr als 800 Demonstranten wegen Verfahrensfehlern ein. Mubarak erklärt, dass er sich keinerlei Vergehen bewusst ist

„Heute ist mein Bruder ein zweites Mal ermordet worden“

EIN DEMONSTRANT NACH DEM URTEIL

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

„Wenn Mubarak unschuldig ist, wer ist dann für den Tod der Demonstranten verantwortlich?“ steht auf einem Schild, das ein junger Demonstrant in der Nähe des Tahrirplatzes hochhält, während zahlreiche Autofahrer ihn zustimmend anhupen. Wenige Stunden zuvor hatte am Samstag ein Gericht in Kairo das Verfahren gegen den ehemaligen ägyptischen Diktator eingestellt, in dem dieser angeklagt war, für die Tötung von Hunderten Demonstranten während des Aufstandes im Frühjahr 2011 mitverantwortlich zu sein. Sein Innenminister Habib El-Adli sowie sechs seiner höchstrangigsten damaligen Sicherheitschefs wurden von derselben Anklage gar freigesprochen. Im gleichen Verfahren sprach das Gericht Mubarak und dessen Söhne von Korruptionsvorwürfen frei.

Dieser Prozessausgang wird von vielen Ägyptern, vor allem den Angehörigen der damals umgekommen Demonstranten, als ein komplettes Reinwaschen des alten Regimes durch die Justiz empfunden. Das Urteil stellt die Spitze einer Entwicklung dar, in der zuvor bereits 170 Polizeioffiziere, die wegen der Tötung von Demonstranten vor Gericht standen, freigesprochen wurden. Nur in einigen wenigen Fällen wurde eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

Am Samstag brach vor dem Gericht ein junger Mann zusammen, der zuvor ein weißes Leichentuch in der Hand hielt, symbolisch für seinen Bruder, der während des Aufstands gegen Mubarak umgekommen war. „Mein Bruder wird sein Recht bekommen“, hatte er noch vor dem Urteil zuversichtlich erklärt. Nach dem Urteilsspruch warf er sich schreiend auf die Straße. „Heute ist mein Bruder ein zweites Mal ermordet worden“, rief er aufgebracht, während er sich neben dem Leichentuch auf dem Asphalt hin und her warf.

Diskutiert wird nun, ob Mubarak schon bald wieder ein freier Mann ist. Der frühere Staatschef muss eine dreijährige Strafe in einem anderen Korruptionsfall absitzen, die er weitgehend nicht im Gefängnis, sondern im Krankenhaus verbringt. Dieses Urteil war im Mai 2014 gefällt worden, allerdings sitzt Mubarak schon seit Mai 2011 in Haft. Jetzt geht es darum, ob die frühere Haftzeit angerechnet wird. Dann müsste Mubaraks Zeit als Häftling im Mai 2014 beendet sein.

Im wichtigsten Anklagepunkt, in dem ihm Beihilfe zum Mord an Demonstranten während des Aufstands vorgeworfen wurde, erhielt Mubarak keinen Freispruch. Der Richter hat das Verfahren eingestellt. Zunächst waren nur der Innenminister und sein Sicherheitschef angeklagt. Mubarak wurde aufgrund öffentlichen Drucks nachträglich dem Verfahren zugeschlagen. Das interpretierte der Richter nun als Verfahrensfehler und stellte mit dieser Begründung den Prozess gegen Mubarak ein. Es war für den Richter der juristisch eleganteste Weg, um nicht über die Schuld oder Unschuld Mubaraks richten zu müssen.

Das Verfahren wird wohl in eine letzte Runde gehen. Die Staatsanwaltschaft wird das Kassationsgericht anrufen. Dieses wird zunächst nicht die Beweislage neu bewerten. Es kann dem Urteil entweder zustimmen – damit wäre das Verfahren abgeschlossen. Oder es kann wegen Verfahrensfehlern eine Neuverhandlung beschließen. Das wäre dann ein letzter Prozess, der vom Kassationsgericht selbst verhandelt würde, das den Fall völlig neu aufrollen müsste.

Während der 86-jährige Mubarak nach dem Urteil zurück ins Krankenhaus gebracht wurde, winkte er kurz einer kleinen Gruppe von Anhängern zu. Später wurde er per Telefon in eine Fernseh-Talkshow zugeschaltet, in der er noch einmal feststellte, dass er sich keinerlei Vergehen bewusst sei.

Kurz darauf zirkulierten auf Twitter und Facebook Fotos der über 800 während des Aufstandes getöteten Demonstranten, um „dem Gedächtnis Mubaraks auf die Sprünge zu helfen“. In einem Tweet hieß es: „Wenn niemand für den Tod der Demonstranten verantwortlich ist, haben sie wohl alle Selbstmord begangen.“