„Die wenigsten Staaten haben Interesse“

Andreas Rister von terre des hommes beklagt, dass es bis jetzt keine Schutzkonvention gegen interne Vertreibungen gibt. Weltweit sind heute rund 25 Millionen Menschen vertrieben, ohne eine Staatsgrenze zu überschreiten. Niemand ist zuständig

INTERVIEW BERND PICKERT

taz: Sie gehen davon aus, dass es weltweit derzeit rund 25 Millionen intern Vertriebene gibt. Das sind offensichtlich Menschen, die zum Teil schon sehr lange vertrieben sind. Auf welchen Zeitraum bezieht sich die Zahl?

Andreas Rister: Es gibt keine klare Definition, wann Vertreibung eigentlich endet, so wie es überhaupt keine klare Definition gibt, wer intern Vertriebener ist. Das liegt nun wiederum daran, dass es keine internationale Schutzkonvention für intern Vertriebene gibt. Diese 25 Millionen sind Menschen, die durch Gewalt vertrieben worden sind. Die Leitlinien des UN-Beauftragten für den Schutz der Menschenrechte intern Vertriebener verwenden eine sehr breite Definition – da sind die Opfer von Naturkatastrophen genauso eingeschlossen wie etwa die Opfer von Entwicklungsprojekten, etwa Staudämmen. Da kommt man auf rund 80 Millionen Menschen.

Wie ist es denn zu erklären, dass es keine internationale Schutzkonvention gibt?

Es geht um eine sehr zentrale Frage der staatlichen Souveränität aller Staaten – deshalb haben die wenigsten ein Interesse an einer solchen Definition. Übrigens auch die Hilfe leistenden Länder, weil sie zum Eingreifen gezwungen wären, wenn es eine solche Konvention gäbe.

Also eine völlige Grauzone?

Es gibt Leitlinien der UN, die von dem – ehrenamtlichen! – Beauftragten der UN entwickelt wurden. Das ist sehr nützlich, aber man kann sich völkerrechtlich nicht darauf berufen. Weder Bundesregierung noch EU haben eine Strategie zu dem Thema – und das liegt daran, dass man sofort an die Grenze staatlicher Souveränität anderer stößt.

Was müsste denn geschehen, damit die Lage besser wird?

Wir fordern ein Menschenrecht auf Schutz vor Vertreibung. Das wäre keine eigene Konvention, würde aber Klarheit schaffen. Bislang ist Vertreibung nicht einmal klar verboten!

In der Öffentlichkeit hält sich die Auffassung, interne Vertreibung sei nicht so schlimm. Im Bürokratendeutsch des deutschen Asylrechts etwa heißt es dann, es bestehe eine „inländische Fluchtalternative“ und daher kein Asylgrund. Sie sagen hingegen, intern Vertriebene seien meist schlechter dran als internationale Flüchtlinge. Warum?

Das liegt an den fehlenden formalrechtlichen Rahmenbedingungen. Es gibt eben weder eine Konvention noch eine Organisation wie UNHCR, die das Mandat hätte, sich um diese Flüchtlinge zu kümmern. Ob den Menschen geholfen wird oder nicht, hängt vom guten Willen der jeweiligen Regierung ab. Aber viele Regierungen leugnen schlichtweg, dass es in ihren Ländern Vertriebene gibt, die Not leiden. Wenn ein Staat wie die Bundesrepublik da von inländischer Fluchtalternative spricht, muss er aufpassen, nicht zum Mitschuldigen zu werden.

Ihr Buch heißt „Vertreibung von Kindern verhindern!“ Wie kann man das verhindern?

Zunächst wollen wir eine bessere Information erreichen. Die Öffentlichkeit muss den Unterschied der rechtlichen Situation zwischen Flüchtlingen und intern Vertriebenen verstehen. Im Übrigen gibt es in vielen Ländern hervorragende Selbstorganisation von intern Vertriebenen. Die sind zu fördern, die sind auch zu hören. Und ihre Vertreter sind zu schützen, denn sie sind besonders gefährdet.

Wenn Ihr Buch die Worte „Vertreibung verhindern“ im Titel hat, setzt es doch nicht bei der Hilfe für Vertriebene an, sondern will, dass Vertreibung erst gar nicht stattfindet. Wo sehen Sie denn Hebel, an denen man ansetzen könnte?

Da sind Sie am zentralen Punkt, dem Schutz vor Vertreibung. Während das für Darfur wenigstens diskutiert wird, wird Vertreibung in vielen Ländern einfach hingenommen. Hier ist die Öffentlichkeit gefragt. Man muss deutlich machen, dass Vertreibungen in Kolumbien oder Birma genauso schlimm sind wie in Darfur oder Simbabwe.

Und das soll reichen, um Vertreibung zu verhindern?

Die Schutzfrage ist die schwierigste Frage. Ich kann sie auch nicht beantworten. Es finden jetzt gerade Verbrechen statt – wie kann man die verhindern, wie kann man den Tätern in die Arme fallen? Das ist weder durchdacht noch gelöst. Derzeit sehe ich dazu auch den politischen Willen nicht.