Um das Wahlrecht betrogen

HAITI Viele Menschen können ihre Stimmen nicht abgeben, weil ihre Namen aus den Wählerlisten verschwunden sind. Es kommt zu den ersten Protestdemonstrationen

„Unser Präsident ist unfähig“

Willy, verhinderter Wähler

AUS PORT-AU-PRINCE DOROTHEA HAHN

Willy ist mit dem Finger Zeile für Zeile über die Namensliste gestrichen, die außen neben dem Eingang zum Wahllokal hängt. Der arbeitslose Elektriker hat sein ganzes Erwachsenenleben lang im Lycée National gewählt. Seither ist seine Adresse gleich geblieben. Aber sein Name ist aus den Wählerlisten verschwunden. Er kann nicht wählen. Seine Frau Marlie hingegen, mit der er am Sonntag gekommen ist, darf. Sie hat den im Wahllokal tintengeschwärzten rechten Daumen. Er nicht.

„Unser Präsident ist unfähig“, schimpft Willy. „Er hat Berge von Dollars aus dem Ausland bekommen und verschwendet, während eineinhalb Millionen Landsleute auch zehn Monate nach dem Erdbeben noch in Zelten leben. Und jetzt ist er nicht einmal in der Lage, eine Wahl zu organisieren.“

Willy hat den scheidenden Präsidenten zweimal gewählt. Aber die letzten fünf Jahre René Preval haben ihn einfach nur wütend gemacht. Dass Preval dem Land zum Abschied auch noch einen Nachfolger aus seinem engsten Kreis aufdrängen will, macht die Sache schlimmer.

Jude Célestin, Präsidentschaftskandidat der machthabenden Partei Inite (Einheit-Partei), war bis zum Sommer ein in der großen Öffentlichkeit unbekannter leitender Beamter. In Haiti gilt es vielen als ausgemachte Sache, dass er nur mithilfe von Geld und Fälschungen Präsident werden könnte.

In den Wochen vor der Wahl haben seine Anhänger das ganze Land mit seinem Konterfrei vor dem grün und gelben Hintergrund der Inite-Partei vollgekleistert. Célestin klebt jetzt an den Mauern, flattert über die Straßen und wird von kleinen Flugzeugen durch den Himmel über Haiti gezogen.

„Kommt wählen! Lasst uns Haiti gemeinsam wieder aufbauen!“ steht auf dem Poster vor dem großen Wahllokal. Aber von den Menschen, die diese Aufforderung wörtlich nehmen, blitzen viele genauso ab wie Willy. In Raum Nummer vier sagt eine lächelnde junge Frau: „Ich erwarte nichts Gutes von diesen Wahlen.“ Die 23-jährige medizinisch-technische Assistentin Natasha ist Wahlbeobachterin für die haitianische Gruppe CNO. Seit sechs Uhr morgens sitzt sie auf einer der im hinteren Teil des Klassenraums gestapelten Pulte, neben und hinter ihr die Wahlbeobachter der Kandidaten.

Als Erstes ist Natasha an diesem Morgen aufgefallen, dass die Wahlunterlagen zu spät geliefert wurden. Das hat den Wahlbeginn um eine halbe Stunde verzögert. Dann kamen immer neue Wähler, deren Namen nicht mehr in den Listen stehen. „Das sind Fehler der Wahlkommission“, sagt Natasha. „Unsere Elite soll dafür sorgen, dass das Land funktioniert. Stattdessen organisiert sie Wahlen, die es noch schlimmer machen. Das wird neue Demonstrationen auslösen.“

Natasha und ihre Freundin Nadège haben einen Stöpsel der Kopfhörer zu einem Handy-Radio im Ohr. Mit ihren Augen und einem Ohr verfolgen sie das Geschehen in dem Klassenraum im Lycée National. Mit dem anderen Ohr hören sie die Liveberichterstattung des haitianischen Radios. Sie erfahren von Urnen an mehreren Orten, die schon vor der Eröffnung der Wahllokale mit ausgefüllten Stimmzetteln gefüllt sind. Von Demonstranten in Delmas, die eine Straße blockieren, um ihr Wahlrecht einzuklagen. Von Polizisten in Carrefour, die nur Wähler mit Parteiausweis der Inite in das Lokal lassen. Und von Trou du Nord, wo Maskierte ein Wahlbüro überfallen haben und mit den Urnen verschwunden sind. „Schockierend“, sagt Nadège. Die 21-Jährige hat wenige Monate vor dem Erdbeben mit dem Medizinstudium begonnen. Seit dem 12. Januar ist ihre Universität zerstört, das Studium unterbrochen.

Am Mittag gibt Kandidat Jude Célestin seine Stimme im Lycée National ab. Während er wählt, bahnen sich Dutzende junger Männer schubsend und grölend den Weg durch die Gänge und Balkons auf den drei Etagen der Schule. Sie skandieren „Célestin prézidan“. Von draußen kommt das gleichlautende Echo weiterer Célestin-Unterstützer.

Sie sind nicht die einzigen, die an diesem Tag in Lastwagen zu dem Wahllokal gekarrt worden sind. Ein paar Meter weiter, von einer Reihe von UN-Blauhelmsoldaten getrennt, tanzen und skandieren in Pinkrosa gekleidete Leute. Sie wollen, dass der Sänger Sweet Micky, bürgerlich Michael Martelly, Präsident wird. Auch die Micky-Anhänger sind gut organisierte mobile Einsatztruppen. Noch bevor Célestin das Wahllokal verlässt, erobern mehrere Dutzend Micky-Anhänger die Balkons der Schule. Von oben rufen sie, was sie von der Partei des scheidenden Präsidenten Préval und seines Kandidaten Célestin halten: „Das ist Gift – das ist Cholera“.

Wenige Stunden später werden 12 der 18 Kandidaten für die Präsidentschaft im Kongresszentrum sitzen. Alle verlangen die Annullierung dieser Wahlen. Wegen Betrug, Druck auf Wähler und Wahlbüroleiter sowie Fälschung. Sie fordern auch den sofortigen Rücktritt von Präsident Préval.

Kaum ist die Pressekonferenz der KandidatInnen am frühen Nachmittag zu Ende und lange, bevor die Wahllokale schließen, füllen sich die Straßen von Port-au-Prince mit Demonstranten. Anders als bei den mobilen Einsatzkommandos, die in den Stunden zuvor unterwegs waren, sind dieses Mal auch Frauen auf den Straßen. Mit dabei sind Erdbebenopfer, die in Zeltstädten leben und trotz vieler Bemühungen keine Wählerkarte bekommen haben. Sowie mehrere Präsidentschaftskandidaten und der Sänger Wyclaf Jean. Auch er wollte für das Präsidentenamt kandidieren. Doch die Wahlkommission lehnte ihn ab. Begründung: Er lebt in den USA.

Am Abend spricht der Chef der provisorischen Wahlkommission von einem „Erfolg“. Gaillot Dorsainvie sagt, ohne eine Miene zu verziehen, dass es „nur“ in 56 der insgesamt 1.500 Wahlbüros Störungen gegeben habe. Den Ruf nach einer Annullierung der Wahlen bezeichnet er als „politische Strategie“ der zwölf Kandidaten.

Mit diesem Optimismus steht er ziemlich allein. Bei einer Krisensitzung am Nachmittag des Wahltages äußern auch die Vertreter von UNO, USA und mehrerer europäischer Länder Proteste. In dieser Woche will die Wahlkommission erste Ergebnisse bekannt geben. Die Stichwahl ist – falls nötig – für Januar geplant. Den Monat, in dem sich das Erdbeben zum ersten Mal jährt.

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