Dichtung und Wahrheit aus Kabul

NORWEGEN Die Bestsellerautorin und Journalistin Åsne Seierstad muss wegen ihres Buches „Buchhändler aus Kabul“ Schadenersatz zahlen. Ein weibliches Familienmitglied fühlt sich zutiefst in seiner Ehre gekränkt

So wird behauptet, Suraya hätte den Buchhändler nur wegen des Geldes geheiratet

VON REINHARD WOLFF

STOCKHOLM taz | Mit dem „Buchhändler aus Kabul“ landete Åsne Seierstad einen weltweiten Bestseller. Die norwegische Journalistin gewann mit diesem 2002 erschienenen Reportagebuch, in dem sie einen mehrmonatigen Afghanistan-Aufenthalt bei der Familie des Kabuler Buchhändlers Shah Mohammad Rais in der Zeit nach dem Sturz des Talibanregimes schilderte, viele Auszeichnungen.

In der vergangenen Woche verurteilte ein Gericht in Oslo Seierstad und ihren norwegischen Verlag zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von umgerechnet jeweils 16.000 Euro an Suraya Rais, eine von mehreren Frauen des Buchhändlers. Begründung: deren Ehre sei gekränkt worden. Der 40-jährigen ehemaligen Russland- und China-Korrespondentin, die Bücher über Serbien, den Irak und Tschetschenien veröffentlichte, wirft das Gericht vor, es mit der Wahrheit nicht so genau genommen zu haben. Denn Seierstad soll während ihres fünfmonatigen Aufenthalt in der Buchhändlerfamilie der 18-jährigen Suraya Rais – im Buch nur unzureichend anonymisiert – Gedanken, Gefühle und Ansichten untergeschoben haben, bezüglich derer die Verfasserin und ihr Verlag „nicht in gutem Glauben gehandelt hatten, dass diese richtig und korrekt waren“, meint das Gericht.

So wird in dem Buch behauptet, Suraya hätte den Buchhändler nur wegen des Geldes geheiratet und um ihr Leben gefürchtet, sollte sie ihm keinen Sohn gebären. Einen Wahrheitsbeweis für solche und andere Behauptungen könne Seierstad nicht erbringen, heißt es im Urteil. Das wäre aber erforderlich, da die Journalistin im Vorwort zu ihrem Buch dieses ausdrücklich nicht als Roman, sondern als Tatsachenbericht bezeichnet habe.

Seierstad sei für die Wahl des literarischen Genres ihres Buchs bestraft worden, kommentiert Per Edgar Kokkvold, Generalsekretär des norwegischen Presseverbands. Die Verfasserin selbst zeigte sich gegenüber der Tageszeitung Dagbladet „überrascht“ von dem Urteil. Sie habe dem Gericht gegenüber klarzumachen versucht, dass das Buch „auf Erzählungen gründet“. So weit ihr das möglich war, habe sie alle Angaben verifiziert und für alle Teile des Buchs ausreichende Belege geliefert. Ob sie in Berufung gehen werde, müsse sie erst noch mit ihrem Anwalt klären.

Der Rechtsanwalt von Suraya Rais warf Seierstad vor, sie habe „gedichtet, um mit dem Privatleben anderer Menschen Geld zu verdienen“. Er kündigte an, dass diesem ersten Prozess ähnliche Verfahren sechs weiterer Familienmitglieder folgen würden, die sich ebenfalls in ihrer Ehre gekränkt sähen. Seierstads intime Beschreibung des Lebens in der in Kabul bekannten Familie hatte mehrere Monate nach dem Erscheinen des Buches zu Protesten des Buchhändlers geführt. Shah Mohammed Rais warf der Journalistin vor, die Gastfreundschaft missbraucht, seine Familie, die afghanische Kultur und den Islam verleumdet zu haben.

Åsne Seierstad hatte in späteren Übersetzungen der norwegischsprachigen Originalausgabe – das Buch wurde in über 40 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft – einige Passagen gestrichen. 2006 veröffentlichte Buchhändler Rais ein eigenes Buch, in dem er seine Sicht der Dinge schildert.

Nach mehreren Klageandrohungen und etlichen gescheiterten Versuchen einer gütlichen Einigung ist derzeit in Norwegen ein gerichtliches Verfahren anhängig, bei dem es zuletzt um die Frage ging, welches Recht für eine Schadenersatzforderung der Angehörigen der in Afghanistan wohnhaften Buchhändlerfamilie zur Anwendung kommen solle. Bei Suraya Rais war dies klar, da sie 2006 in Norwegen Asyl gesucht hatte. Die Begründung lautete: Das Buch habe es ihr unmöglich gemacht, weiter in Kabul leben zu können.