Erschöpft vom Versteckspiel

FRANKREICH Die Flüchtlinge aus Nordafrika hausen neben der Autobahnbrücke im Norden von Paris. Sie klagen über ihre Behandlung. Ein Besuch im provisorischen Auffanglager

„Wir haben die Revolution gemacht, warum ist man gegen uns?“

MOHAMED, FLÜCHTLING

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Warum ausgerechnet diese Grünanlage an der Porte de la Villette neben der Brücke der Ringautobahn „Périphérique“ im Norden von Paris zum provisorischen Auffanglager nordafrikanischer Migranten geworden ist, weiß niemand mehr. Für rund 400 junge Männer aus Tunesien, einige aus Libyen und Algerien, ist diese kleine Gartenfläche am Stadtrand die vorerst letzte Station ihrer langen und oft abenteuerlichen Reise. Die meisten sind noch braun gebrannt von der Sonne während der Überfahrt auf hoffnungslos überfüllten Booten nach Lampedusa. Sie sind erschöpft nach langen Tagen des Versteckspiels mit italienischen und französischen Behörden. Das Ziel ihrer Odyssee hatten sie sich anders vorgestellt als dieses Lager ohne Toilette und Waschgelegenheit. Dennoch bleiben sie, weil sie keine Verwandten oder Bekannte und keinen andern Ort zum Übernachten haben und weil hier am Abend das Rote Kreuz wenigstens eine warme Mahlzeit verteilt. Einige Anwohner und Exiltunesier kommen tagsüber vorbei und bringen ihnen zu essen und zu trinken, aber auch ein wenig Trost und Beistand.

Fast ebenso hart wie die Lebensbedingungen ist die Desillusionierung. „Ich habe davon geträumt, nach Frankreich zu kommen. In Tunesien habe ich keine Arbeit und keine Zukunft. Aber hier stoße ich nur auf Ablehnung, niemand hilft mir, man weist uns ab“, klagt der 23-jährige Mohamed. Er hat bereits vier Nächte draußen an der Porte de la Villette verbracht und ist wie die meisten verbittert. „Wir haben die Revolution in Tunesien gemacht, warum ist man gegen uns?“, fragt er. Neben ihm bemerkt der etwas ältere Taoufik spitz: „Tunesien hat 250.000 Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen. Frankreich aber, das Land der Menschenrechte, ist nicht in der Lage, ein paar hundert Tunesier aufzunehmen!“

Er erzählt, wie er mit 180 Schicksalsgenossen unter Lebensgefahr auf die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa gelangte und dort drei Nächte am Strand wartete, dann via Bari, Foggia, Mailand und Genua ein erstes Mal nach Frankreich gelangte, aber von der Polizei aufgegriffen und nach Ventimiglia abgeschoben wurde. Danach sei er zu Fuß über die Grenze bei Menton gegangen und schließlich von Nizza über Lyon nach Paris gekommen. Er sei gelernter Metzger und wolle in Frankreich in seinem Beruf arbeiten und seinen Eltern und Geschwistern zu Hause in Zarzis Geld schicken, sagt er. Da er keine gültigen Papiere habe, bekomme er bisher lauter Absagen. Auch in Restaurants hätten die Wirte Angst vor hohen Bussen für die Beschäftigung von Schwarzarbeitern.

Der Wind der tunesischen Revolution weht plötzlich über die Pariser Grünanlage, als einige aufgebrachte Junge vorschlagen, aus Protest über ihre prekäre Situation die Ausfahrtsstraße nach Aubervilliers zu sperren. Es geben aber jene den Ausschlag, die zu Vorsicht mahnen. Denn seit Dienstagabend hat die Polizei begonnen, die Migranten zur Personenkontrolle festzunehmen. Wer von ihnen nicht über ein Schengenvisum oder die von Italien ausgestellte provisorische Aufenthaltsgenehmigung und genügend Geld (rund 60 Euro pro Tag) verfügt, werde über die italienische Grenze abgeschoben oder zurückgeschickt. Die tunesische Anwältin Samia Maktouf protestiert gegen eine Jagd auf illegale Immigranten, welche Frankreich nicht zur Ehre reichen würde: „Sie haben nichts verbrochen und stellen kein Risiko für die öffentliche Ordnung dar. Ihr einziger Fehler ist es, dass sie man sie lokalisieren kann.“

Auch die Ordnungshüter wissen, wo sie die vom Staatschef Nicolas Sarkozy offiziell für unwillkommen erklärten Ankömmlinge finden können. Am Mittwochabend warteten sie die Essensausgabe an der Rue des Quatre Chemins ab, um anschließend nach 21 Uhr mehrere dutzend Personen abzuführen.

Der Bürgermeister von Paris, Bertrand Delanoë, der selbst 1950 als Franzose in Tunis auf die Welt gekommen ist, äußerte sich über die Behandlung der jungen Tunesier durch die Behörden „schockiert“. Er hat den Hilfswerken 100.000 Euro für erste humanitäre Sofortmaßnahmen zur Verfügung gestellt. Taoufik weiß, dass die Flüchtlingsfrage ein Politikum geworden ist: „Das ist wie ein großes Match, und wir sind der Spielball“, meint er traurig.