Armut im reichsten Land der Welt

USA 15 Prozent der US-Bürger sind arm, sagt eine OECD-Studie. Besonders Schwarze, Hispanics und Frauen

WASHINGTON taz | Jeder sechste US-Bürger lebt in Armut – die dramatischste Zahl seit Beginn der Messungen in den 1950er Jahren. Nach einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) galten 2010 rund 15 Prozent der Menschen in der größten Volkswirtschaft der Welt als arm. Schwarze, Hispanics und Frauen sind besonders betroffen. Gleichzeitig klafft die Reichtumsschere auseinander: 20 Prozent der US-Bürger kontrollieren nach der Studie 84 Prozent des Vermögens. Verlierer ist die Mittelschicht.

„Die Armutskrise ist eine der größten moralischen und wirtschaftlichen Herausforderungen des Landes“, erklärte der unabhängige Senator des Bundesstaates Vermont, Bernie Sanders. Die Armut durch die von der Finanz- und Immobilienkrise ausgelöste Rezession komme für viele US-Bürger einem Todesurteil gleich. „Nach wie vor könnten sich nämlich 49,9 Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung leisten.“ Nach einer Studie der Harvard-Universität stirbt deshalb alle zwölf Minuten ein Mensch in den USA.

Jedes fünfte Kind in Armut

Laut OECD-Bericht leben 21,6 Prozent aller US-amerikanischen Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Als arm gilt in den USA eine vierköpfige Familie, die im Jahr weniger als umgerechnet 16.290 Euro zur Verfügung hat. Am Schlimmsten betroffen sind Afroamerikaner, gefolgt von der hispanischen Bevölkerung. So seien 2009 doppelt so viele schwarze Kleinkinder gestorben wie weiße.

Die Armut habe noch andere ernsthafte Auswirkungen, meint der linke Politiker Sanders. So gehe die Lebenserwartung für Frauen mit niedrigem Einkommen bereits in deutlich über 300 Landkreisen der USA zurück, während Besserverdiener im Schnitt sechseinhalb Jahre länger lebten als Menschen mit geringerem Einkommen.

Als einen der Gründe führen Wirtschaftsexperten an, dass die Mittelschicht allmählich ausstirbt. Hauptgrund sei zum einen der hoffnungslose Arbeitsmarkt. „Wir haben in den vergangenen Jahren eine massive Verschlechterung erfahren, und die schwachen Aussichten lassen diesen Bericht noch hässlicher werden“, sagt Heidi Shierholz vom Economic Policy Institute. Außerdem sei das durchschnittliche Nettoeinkommen US-amerikanischer Familien in den vergangenen zwei Jahren um 26 Prozent gesunken, berichtete das Wall Street Journal. Während eine Durchschnittsfamilie heute lediglich 11 Prozent mehr verdient als 1980, sind die Verbraucherpreise um rund 155 Prozent gestiegen. ANTJE PASSENHEIM