Polizei bedeutet Lebensgefahr

BRASILIEN Human Rights Watch wirft Brasilien Misshandlungen und Folter bei Festnahmen und in Haftanstalten vor. Manche Verdächtige werden von der Polizei hingerichtet

Vorwürfen gegen Polizisten oder Aufseher wird fast nie nachgegangen

AUS RIO DE JANEIRO ANDREAS BEHN

„Zwei weniger. Wenn wir das jede Woche machen, können wir sie dezimieren. Zielerfüllung“, sagt der Polizist zu seinem Kollegen. Der stimmt zu, sie fachsimpeln über die Schüsse, die sie gerade abgegeben haben. Kurz zuvor haben die beiden zwei Jugendliche im Zentrum von Rio de Janeiro festgenommen, die dort Leute überfallen haben sollen. Ein Dritter schaute zu deutlich hin und wurde ebenfalls mitgenommen.

Zielstrebig fahren die Militärpolizisten in das Waldgebiet Sumaré. Sie wissen, dass sie im Auto gefilmt werden. Seit einiger Zeit werden Streifenwagen mit Kameras ausgestattet, um die Arbeit der Beamten zu überprüfen. Live werden Bilder und Ton in eine Einsatzzentrale übertragen. Sicherheitshalber schalten sie das System während der Hinrichtung ab. Der 14-Jährige ist sofort tot, der 15-Jährige stellt sich nach Schüssen in Rücken und Bein tot. Der Dritte wird verschont, da er den Namen eines gemeinsamen Bekannten nennen konnte.

Die zwei Polizisten sind jetzt des Mordes angeklagt. Ein seltener Fall, denn normalerweise herrscht in Brasilien nahezu umfassende Straflosigkeit. Erst dadurch wird ein solches Vorgehen überhaupt möglich. Der Dritte wurde mit Drohungen erfolgreich zum Schweigen gebracht, nur das Überleben des einen Opfers war nicht vorgesehen und brachte die Ermittlungen ins Rollen.

Als der Fall Anfang Juli knapp einen Monat nach der Tat publik wurde, hatte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) ihre Untersuchung zu Folter und Willkür bei Festnahmen in Brasilien bereits abgeschlossen. Am Montag übermittelte HRW die Ergebnisse dem brasilianischen Kongress und den Gouverneuren von fünf Bundesstaaten: Die Menschenrechtler dokumentierten 64 Fälle der vergangenen vier Jahre, in denen Festgenommene „brutal, unmenschlich oder entwürdigend“ behandelt wurden. In 40 dieser Fällen hätten die Misshandlungen das Ausmaß von Folter angenommen.

Straffreiheit sei einer der Gründe für die Willkür der Sicherheitskräfte: Als Beispiel nennt die Menschenrechtsorganisation die 122 Klagen über Misshandlungen, die allein im Oktober 2013 beim Ombudsmann von São Paulo eingegangen waren. In keinem einzigen Fall kam es zu irgendwelchen Disziplinarmaßnahmen.

Human Rights Watch fordert Brasilien auf, endlich Maßnahmen zur Eindämmung der Willkür der Behörden zu ergreifen. Vor allem sei notwendig, einen Gesetzesentwurf zu verabschieden, der seit 2011 in der Schublade liegt. Er sieht vor, dass Festgenommene binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen. „Damit wird verhindert, dass eventuelle Misshandlungen oder Folter zur Erpressen von Geständnissen unentdeckt bleiben“, betont Maria Laura Canineu, die brasilianische Direktorin von HRW. In den Nachbarstaaten ist diese Rechtsnorm seit Langem gegeben.

Tausende sitzen in Brasilien Monate oder länger in Gefängnissen, ohne dass die ihnen zur Last gelegten Vorwürfe juristisch überprüft wurden. Allein schon die Bedingungen in vielen Haftanstalten sind eine Tortur. Viele werden dort erst kriminell, da ohne Gefälligkeiten oder Bandenzugehörigkeit das Überleben schwierig ist.

Dramatisch ist die Lage in der Metropole São Paulo. Klagen über Misshandlungen oder willkürliche Erschießungen prallen an untätigen Behörden ab. Nur wenn eindeutige Beweise öffentlich werden, gibt es Ausnahmen: So im Fall einer Jugendhaftanstalt, in der gefilmt wurde, wie die Aufseher zahlreiche Insassen minutenlang verprügelten.

São Paulos Gouverneur Geraldo Alckmin räumte in einer ersten Reaktion auf die HRW-Kritik ein, dass es in Einzelfällen zu Übergriffen kommen könne. Vor Kurzem wurde eine landesweite Untersuchungskommission eingerichtet, die unangemeldet Haftanstalten besuchen darf und die Zustände dort kontrollieren soll. HRW reicht das nicht.

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