Kommt mal zur Besinnung!

DURCHATMEN Was tun, wenn einem der Stress in der Stadt über den Kopf wächst? Ein Spaziergang mit dem Flaneur und Autor David Wagner – und eine Gebrauchsanweisung, wie man im dichtesten Gewimmel zur Ruhe kommt

Am besten ist es, man unterhält sich beim Gehen, steckt die Hände in die Manteltaschen und nimmt sie nur dann und wann heraus, um mit ihnen aus Luft zu kneten, was man versucht zu sagen

VON SUSANNE MESSMER

Ziemlich wichtig ist der Rhythmus. Nicht zu langsam darf es sein, es geht ja schließlich nicht um einen Schaufensterbummel. Zu schnell, gehetzt oder gar zielstrebig soll es aber auch nicht werden. Denn schließlich haben wir einen Stadtspaziergang mit dem 41-jährigen Berliner Autor David Wagner vor, wie er ihn in seinem Buch „Welche Farbe hat Berlin“ beschreibt.

Am besten ist es vielleicht, man unterhält sich beim Gehen, steckt die Hände in die Manteltaschen und nimmt sie nur dann und wann heraus, um mit ihnen aus Luft zu kneten, was man versucht zu sagen. Dann kommt man ungefähr in einer Geschwindigkeit vorwärts, die es erlaubt, ein wenig über dies und das nachzudenken, aber auch hin und wieder zu atmen, zu schauen und sich ablenken zu lassen durch das, was sich links und rechts vom Weg abspielt. Dann hat man, wie gesagt, ungefähr den richtigen Rhythmus.

David Wagner ist ein routinierter Stadtläufer, der schon mal knapp zwei Stunden von der Friedrichstraße bis hinters Schloss Charlottenburg läuft oder mitten in der Nacht eine knappe Stunde vom Lehniner bis zum Nollendorfplatz. Das merkt man in den ersten Minuten. Wir treffen uns in der Oderberger Straße, wo er wohnt, und gleich schlägt er vor, sich Richtung Nordwesten zu schlagen, ins Brunnenviertel im Wedding, wo die Pfade noch nicht so ausgetreten sind, wo man vielleicht, wenn man ein- oder zweimal falsch abbiegt, sich noch eher verfransen kann als hier in Prenzlauer Berg oder in Mitte.

Mitten im Trubel

David Wagner, ein kleiner Mann im schicken Mantel, der kein Wort sagt, ohne es sich vorher genau überlegt zu haben, soll verraten, wie das geht, mitten in der Betriebsamkeit in Berlins Straßen zur Ruhe zu kommen, gar zur Besinnung. Wir sollen uns am Ende der Wanderung nicht mehr ins Kloster wünschen, auf die Berghütte, die Insel – nicht einmal jetzt, zu Weihnachten. Wir sollen es genießen, in der Stadt zu sein, „ein Bad in der Brandung“ nehmen zu können, „überspült von der Eile der anderen“, wie es 1929 der Berliner Flaneur Franz Hessel beschrieb. Und mittendrin entspannen.

Es geht zunächst am Mauerpark entlang, die Swinemünder Straße hoch, vorbei an den hautfarben getünchten Wohnkartons aus den Siebzigern und zum menschenleeren Spielplatz auf dem Vinetaplatz. Hier, erzählt David Wagner, habe seine Tochter schon als kleines Kind gemerkt, dass die Stadt ganz anders tickt als hundert Meter weiter, auf der anderen Seite der Bernauer Straße, auf dem Arkonaplatz in Mitte zum Beispiel. So viele krasse Gegensätze wie in Berlin, so viele Fallhöhen, die habe er in keiner anderen deutschen Stadt gefunden, sagt Wagner. Nur in anderen europäischen, in London zum Beispiel, wo er Anfang des Jahres zwei Monate arbeiten durfte.

Hier, am Vinetaplatz, kann man aber auch nachvollziehen, warum David Wagner nicht nur so gern übers Gewimmel, sondern auch über die scheinbare Hässlichkeit seiner Stadt schreibt.

Das liest sich zum Beispiel dann so: „Es hat etwas Wohltuendes, auf den großen, stark befahrenen Straßen Berlins an den Rand der Stadt zu wandern. Vorbei an Currywurstbuden, vergessenen Fahrradskeletten, Müllcontainern, Anhängern, die unter Autobahnunterführungen für Pizzalieferdienste werben, vorbei an Parkplätzen, Baumärkten, Tiernahrungsdiscountern und Musterhäusern.“ So viel Hässlichkeit, meint Wagner, zwinge zu „Selbsterniedrigung“ und „Demut“.

Kulisse für das Leben

Warum denn Demut? David Wagner steckt die Hände zurück in die Manteltaschen. Er denkt nach. „Vielleicht, weil man sich dann nicht mehr so wichtig nimmt“, sagt er dann. Vielleicht ist es aber auch so, dass das Kaputte mehr zu erzählen hat als das Heile. Vielleicht gibt das Kaputte auch die bessere Kulisse ab für das prekäre Leben. Für das Leben des Müßiggängers, der weiß, dass Schlendrian zur Arbeit gehört. Dass dieser aber nie etwas einbringen wird.

Das Gehen beflügelt den Geist, es hilft ihm auf die Sprünge und löst fest gefahrene Grübeleien – das wussten schon die alten Griechen. Aristoteles unterrichtete grundsätzlich gehend in den Säulengängen des Athener Apollotempels, und er nannte seine Schüler „Peripatetiker“, was ungefähr so viel wie Umhergehender bedeutet. Descartes unternahm stundenlange Spaziergänge, bevor er sich zum Schreiben hinsetzte. Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau begannen zu wandern, wenn sie auf der Suche nach dem richtigen Gedanken waren. Und selbst Friedrich Nietzsche riet, „keinem Gedanken Glauben zu schenken, der nicht im Freien geboren ist“.

Selbst die aktuelle Ratgeberliteratur weiß: Gehen fördert die Durchblutung, durchs Gehen werden beide Gehirnhälften aktiviert, so dass das Zusammenspiel des logischen und des kreativen Denkens gefördert wird.

Über all das braucht David Wagner gar nicht mehr reden, denn er hat es am eigenen Leib erfahren. Er erzählt davon, als wir in der Swinemünder und Puttbusser Straße an einem orangefarbenen Raumschiff vorübergehen, das hier irgendwann in den Siebzigern gelandet ist: Das Haus wurde als Bibliothek und Schule genutzt, seit vielen Monaten steht es leer.

Der Boulevard im Hospital

Es erinnert David Wagner an seine Schule. Schon damals litt er an einer Leberkrankheit, berichtet er. 2006 bekam er eine neue. Die Transplantation hat ihm das Leben gerettet. Sie zwang ihn aber auch dazu, weit mehr als ein Jahr im Bett zu bleiben. „Ich weiß, was es bedeutet, sich nach dem Gehen zu sehnen“, sagt er. „Der Krankenhausflur war mein Boulevard“, fügt er an. Im März kommenden Jahres wird sein neuer Roman „Leben“ erscheinen. Darin hat Wagner diese Erfahrungen verarbeitet.

Aber wie steht es mit den Flaneuren, mit dem eingangs erwähntem Franz Hessel und mit Walter Benjamin, mit Edgar Allen Poe und Siegfried Kracauer, die die Kunst, durch die Stadt zu wandern, schon vor hundert Jahren betrieben? Was ist das Neue am Stadtspaziergang im neuen Jahrtausend?

Wir biegen gerade in den Lärm der Brunnenstraße ein, wo sich Spielhöllen und Dönerbuden aneinanderreihen. Der gelernte Germanist David Wagner erzählt, wie er all dieses Wissen kürzlich noch einmal hervorkramen musste. Damals hielt er ein Seminar zum Thema. Als er dann aber sein Flanierbuch schrieb, da musste er das alles schnell wieder vergessen.

Es ist doch so: Die Reize haben natürlich zugenommen. In weit größerem Ausmaß ist jedoch der Existenzkampf schlimmer geworden. Der moderne Mensch wechselt seine Arbeitsstelle, seinen Lebenspartner, Wohnort, seine Tageszeitung und andere Gewohnheiten, wenn er sie nicht mehr effizient genug findet. Er hat das andauernde Gefühl, noch etwas erledigen zu müssen, nennt seinen Mittagsschlaf Power Nap und seine Lebenskrise Entwicklungschance. Wenn der moderne Mensch am Schreibtisch sitzt, dann macht das Denken gern einen Knoten, denn es soll immer nur in eine Richtung gehen.

Kurz: Es wird immer schwieriger, das absichtslose Nichtstun. Da hilft, so David Wagner, vor allem eins: Aufstehen und los. Dabei nicht allzu angestrengt auf den Weg achten, nicht nur gehen, sondern sich gehen lassen, ohne Plan und Kalkül. Sich hier eine Szene aus dem großen Rauschen herauspicken, die sich zu beobachten lohnt. Sich dort eine Ansicht suchen, die man zu betrachten Lust hat. Das Zauberwort ist Selektion, und zwar nach Belieben. Und schon löst sich der Knoten, Gelassenheit stellt sich ein. Neue Assoziationen, Ideen und Lösungswege brechen durch.

Und wie ist es, wenn man doch einmal schlicht und ergreifend die Nase voll hat vom Krach, vom Tohuwabohu in Berlin? David Wagner lässt sich überreden, ein Stück in den Humboldthain zu spazieren. Denn Berlin, so weiß ein jeder, ist nach wie vor eine vergleichsweise leere Stadt, in der sich auf den Bürgersteigen weniger Menschen drängeln. Es gibt noch immer mehr Grün, mehr Brachen als in London, Paris oder New York.

Als aber gegenüber dem Eingang zum Park die Ampel auf Grün schaltet, da passiert doch wieder etwas Urbanes, etwas Turbulentes. Ein Radfahrer schießt auf der schneebedeckten Straße vorbei und brüllt so laut er kann, als er fast in eine Gruppe Passanten kracht. Seine Bremsen funktionieren nicht. Die Passanten brüllen laut zurück. David Wagner muss lachen. Gut möglich, dass er eine Szene wie diese eines Tages in einem seiner Texte beschreiben wird.

Als wir schließlich im Humboldthain angekommen sind, da sieht Wagner zum ersten Mal eher gelangweilt aus. Berliner Parks, meint er, sind auch nicht viel mehr Wald als ein Wald in der Provinz. Der provinzielle Wald ist ja auch kein Wald mehr, denkt er weiter, sondern ein Forst, also eine Kulturlandschaft wie der Humboldthain, nur eben eine andere.

Und als sie dann endlich kommt, die unvermeidliche Frage, wo man denn Weihnachten besser verbringt, da sagt David Wagner folgerichtig: „Auch dieses Jahr bleibe ich in der Stadt.“

David Wagner freut sich schon. Hier, im Trubel der großen, hässlichen Stadt, die er so gern durchwandert und beschreibt, da fühlt es sich auch zu Weihnachten am besten an. Hier kommt man einfach am besten zur Besinnung.

■ David Wagner: „Welche Farbe hat Berlin“. Verbrecher Verlag, 14 Euro