Die Aktenberge wachsen weiter

JUSTIZ Sieben Jahre nach Einführung der Hartz-IV-Reformen geht die Klageflut vor dem Berliner Sozialgericht nicht zurück. Die Richter hoffen auf bessere Arbeit der Jobcenter

„Wir ziehen Zwischenwände ein, um mehr Büros zu schaffen“

SABINE SCHUDOMA, SOZIALGERICHT

VON MARTIN RANK

Es sind oft Kleinigkeiten, über die das Berliner Sozialgericht entscheiden muss. Aber es sind so viele Kleinigkeiten, so viele Verfahren, dass die Richter nicht mehr nachkommen. Alle 18 Minuten klagt ein Berliner gegen sein Jobcenter. Typische Streitfrage: Muss die Behörde den Schreibtisch für einen Schüler bezahlen, dessen Familie von Hartz IV lebt? Ja, muss sie, entschied das Gericht. Aber nur, wenn kein anderer Tisch zu Hause zur Verfügung steht.

Die Sozialrichter befassen sich mit Tausenden solcher Detailfragen. Im vergangenen Jahr gingen 44.301 neue Verfahren ein – so viele wie noch nie.

Siebenmal mehr Klagen

Es begann mit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze im Jahr 2005. Seitdem hat sich die Zahl der Klagen versiebenfacht. Im vergangenen Jahr hatte das Gericht mit 28.666 Klagen dieser Art zu tun, im Vergleich zum Vorjahr immerhin ein Rückgang um 3 Prozent. Für die Präsidentin des Sozialgerichts ist das aber kein Grund zum Aufatmen: „Minimale Schwankungen machen keine Trendwende“, so Sabine Schudoma am Donnerstag.

In zwei Drittel aller Verfahren geht es um das Arbeitslosengeld II. 67 der 129 Richter befassen sich allein damit, der Rest sind vor allem Streitigkeiten um die Renten-, Arbeitslosen- oder Krankenversicherung. Die meisten Hartz-IV-Verfahren drehen sich um vier Streitpunkte Einerseits um die Höchstmiete: Ist die Miete zu hoch? Ist die Wohnung zu groß? Zahlt das Jobcenter auch noch nach der Renovierung? Das Gesetz ist hier schwammig formuliert. Seit Mai 2012 regelt in Berlin eine Verordnung die Details zu den Mieten. „Das macht sich hoffentlich bald in sinkenden Klagezahlen bemerkbar“, sagt Schudoma.

Immer wieder gestritten wird auch um die Anrechnung von Einkommen. Besonders bei den Selbstständigen sei Streit programmiert, erklärt Gerichtssprecher Marcus Howe. Ein weiterer Teil betrifft die Sanktionen, die das Jobcenter derzeit gegen fast 5 Prozent der Hartz-IV-Empfänger verhängt hat. Oft geht es um nicht wahrgenommene Termine. Ein nennenswerter Anteil der Klagen komme aber auch zustande, weil das Jobcenter Fristen nicht einhalte, so der Sprecher.

All dies hat zur Folge, dass das Gericht ins neue Jahr mit 42.409 offenen Verfahren startet, 2.000 mehr als 2012. In keinem anderen Sozialgericht werde so schnell gearbeitet wie in Berlin, sagt die Präsidentin – und trotzdem wachse der Aktenberg weiter. Ein Verfahren dauert im Schnitt ein Jahr. Das Sozialgericht musste umgebaut werden, um Platz zu schaffen: „Überall im Haus werden Zwischenwände eingezogen, um zusätzliche Büros zu schaffen“, sagt Schudoma. Nun werden neun weitere Richter eingestellt.

Verständlichere Bescheide

Die Sozialrichter hoffen auf ein Umdenken in den Jobcentern. Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) reagierte zuletzt mit einem Maßnahmenpaket auf die Klageflut. Die Mitarbeiter sollen die Bescheide verständlicher formulieren und mehr mit den Kunden reden, um Streitigkeiten ohne das Gericht zu klären. Auf diese Weise sollen die Klagen um 25 Prozent zurückgehen. Schudoma hofft, dass das gelingt: „Viele Klagen ließen sich vermeiden, wenn die Beteiligten ein klärendes Gespräch führen würden.“

Doch nicht nur Hartz IV macht den Richtern Sorgen. Immer häufiger musste sich das Gericht mit Arbeitgebern befassen, die an der sozialen Absicherung ihrer Angestellten sparen wollen. „Erhebliche Teile des Arbeitsmarktes werden bewusst an der Sozialversicherung vorbei organisiert“, berichtet die Präsidentin. Die Bedeutung der Sozialversicherung gehe zurück.