„Wir haben genug Gewalt erlebt“

CAMP Die Flüchtlinge am Oranienplatz feiern beim Myfest mit. Die Demo am Abend sehen viele von ihnen skeptisch. Sie haben Angst vor Krawallen, wie es sie in den Vorjahren gab

Der Kreuzberger Lebensstil wirkt neben Bashirs Geschichten plötzlich belanglos

VON SUSANNE MESSMER

Kaum, dass die Demo am Abend auch nur beim Namen genannt wird, winken schon alle zwölf Bewohner des Zeltes ab. Hier, bei den Flüchtlingen auf dem Oranienplatz in Kreuzberg, hält man nicht viel von der Revolutionären 1. Mai-Demo, wie sie seit einem Vierteljahrhundert Ritual ist. „Wir wollen friedlich für unsere Ziele kämpfen“, sagt Edgar* aus Uganda. „Wir haben genug Gewalt erlebt“, fügt Bashir aus Nigeria an und lädt ein, mit ihm zur kleinen, grob zusammen gezimmerten Bühne auf der anderen Seite des Platzes zu kommen.

Bashir, ein schwerer vierzigjähriger Mann in Jeans und elegantem terrakottafarbenen Baumwollhemd, will ein bisschen Musik spielen, er verkabelt sein altes Netbook mit dem Mischpult, stellt sich auf die Bühne, schwenkt seinen Schal und tanzt. Ein Anti-Konflikt-Team in neongrünen Westen läuft vorbei, sie haben die Hände in den Hosentaschen, lächeln freundlich. Ein kleines Mädchen mit abstehenden Zöpfen wackelt mit dem Po. Daneben sitzt ein Paar in kurzen Hosen auf einer Bank, sie prosten sich mit einer Flasche Bier zu. Bashir klickt in seinem Rechner ein Lied von Saheed Osupa an, einem populären nigerianischen Sänger.

Das Straßenfest, wird Bashir später erklären, ist die eine Sache: Familien, die bei schönem Wetter auf der Straße essen und tanzen, das kann ja nichts Schlechtes sein. Die andere ist aber das, was er über die Demo gehört hat. Trotzdem wird er am Abend bei dem Protestzug ein paar Sätze sagen. Er wird darüber sprechen, dass jedem dieselben Menschenrechte zustehen. Dass die Flüchtlinge, die er kennt, nicht ohne Grund nach Deutschland gekommen sind. Dass sie unmöglich in ihre „Heimat“ zurück können.

Er wurde um diese Rede gebeten. „Aber sobald einer anfängt, Steine zu schmeißen, da bin ich ich weg“, sagt er. Nicht, dass er Angst vor Menschen in Uniformen hätte. Er kann es nur einfach nicht ertragen, wenn sich Menschen zum Spaß prügeln.

Denn Bashir weiß, was es heißt, wenn nicht nur aus Spaß geprügelt wird. Seine Heimat verlassen hat er schon vor 13 Jahren. Er hatte ein gutes Leben in Nigeria, sagt er, konnte zur Schule gehen, hatte einen Beruf, ein Auskommen, nie etwas mit Kriminalität zu tun. Aber er lebte in der Nähe von Kaduna, einer multikulturellen Metropole im Norden des Landes. In dieser Stadt starben im Jahr 2000 an einem Wochenende viele Hundert Menschen – in Kämpfen zwischen rivalisierenden muslimischen und christlichen Gruppen – wie sie zuletzt sehr plastisch die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie beschrieben hat. Es müssen bürgerkriegsähnliche Zustände gewesen sein. „Menschen auf der Straße sterben zu sehen, das lässt einen nicht mehr los“, sagt Bashir.

Also ging er mit seiner Frau zunächst nach Niger und dann weiter nach Libyen. Bashir arbeitete in der eisenverarbeitenden Industrie. Sie bekamen zwei Kinder, „wundervolle Kinder“, wie er sagt. „Es waren gute Jahre.“

Aber dann kam der Krieg. Über den will und kann er nicht reden. Nur das: „Alle, die Kriege unterstützen, sind gefährlich, ja böse. Denn der Krieg zerstört jede Menschlichkeit.“ Bashirs Familie musste flüchten, schon wieder.

Sie waren auf dem Weg übers Meer nach Lampedusa, als Bashirs Kinder über Bord gingen und ertranken, erzählt er. „Ich habe sie ans Meer verloren“, sagt er und macht eine kurze Pause. Dann ergänzt er mit vollkommen unbewegtem Gesicht: „In sehr kurzer Zeit habe ich mein ganzes Leben verloren.“

Heute lebt Bashir nach vielen sinnlosen Monaten auf Lampedusa, in Frankfurt und in Hamburg mit seiner Frau im Camp. Er weiß nicht einmal, was die Zukunft bringen sollte, wenn er sie sich aussuchen könnte. „Ich habe keine Träume mehr“, sagt er. Alles, was er noch wolle, sei kämpfen. Für seine Rechte. Und für die seiner Brüder, wie er sagt. Dabei ist ihm egal, wo er kämpft.

Während Bashir spricht, läuft ein junges Paar vorbei: Er trägt Rastas, sie eine gestreifte Strumpfhose wie Pippi Langstrumpf. Sie hat sich einen grünen Luftballon mit der Aufschrift „Multi ist kulti!“ an den Rucksack geknotet. Hier wird alternativer Lebensstil zelebriert. Das mag in Berlin seine Berechtigung haben. Im Vergleich zu Bashirs Geschichten wirkt es plötzlich belanglos.

* Zum Schutz der Flüchtlinge verzichten wir auf die Nennung der Nachnamen.