Litauischer Regisseur über Tschetschenien: "Lebe ich noch oder bin ich schon tot?"

Der Regisseur Mantas Kvedaravicius untersucht die Logik der Folter in Tschetschenien. Mit der taz spricht er über Nähe, die Idee von Träumen und die Alltäglichkeit von Gewalt.

Alltag in Tschetschenien. Szene aus "Barzakh". Bild: berlinale

taz: Herr Kvedaravicius, wie kommt ein litauischer Kulturwissenschaftler, der in Cambridge promoviert, dazu, einen Dokumentarfilm in Tschetschenien zu drehen?

Mantas Kvedaravicius: Ich bin ursprünglich Anthropologe und schreibe ein Buch über Folter. Nach Tschetschenien kam ich über die koloniale Idee der Feldforschung: Man geht an einen fremden Ort und macht sich mit dem "lokalen" Leben vertraut. Schritt für Schritt haben sich aber bei meinen Recherchen die Schichten des Lebens verschoben - was außergewöhnlich erschien, wurde alltäglich.

Wie findet man Zugang zu einer Gesellschaft wie der tschetschenischen?

MANTAS KVEDARAVICIUS wurde 1976 in Litauen geboren, hat in Oxford und Cambridge studiert und in New York Religion, Recht und politische Theorie gelehrt. Er forscht seit 2006 im Nordkaukasus und promoviert über das Thema Schmerzaffekt. "Barzakh" ist sein erster Film.

wurde 1976 in Litauen geboren, hat in Oxford und Cambridge studiert und in New York Religion, Recht und politische Theorie gelehrt. Er forscht seit 2006 im Nordkaukasus und promoviert über das Thema Schmerzaffekt. "Barzakh" ist sein erster Film.

Persönliche Nähe war einer der Schlüssel, das Gefühl von Alltäglichkeit zu bekommen, auch der Alltäglichkeit von Gewalt. Ich habe im Verlauf dreier Jahre vierzehn Reisen dorthin unternommen. Im Kaukasus zählen Beziehungen: Mit wem kommst du, wer stellt dich vor? Wegen des Kriegs sind die Kreise eng geschlossen, wenn man aber drinnen ist, hat man das Vertrauen.

Was war Ihr intellektueller Ausgangspunkt für den Film "Barzakh"?

Ich begann mit Fragen zur Folter. In welchen Situationen wird sie verwendet, welche Effekte hat sie auf Gesellschaft, welche Beziehung entsteht zwischen Schmerz und Staatsgewalt? Zu Beginn stand ich unter dem Einfluss von Giorgio Agambens Buch "Homo sacer", diese philosophische Perspektive wurde später irrelevant. Die Dinge, die man nur durch Details hervorbringen konnte, wurden wichtiger.

"Barzakh" bezieht sich auf einen Ort des Übergangs zwischen Leben und Tod.

Der Film begann mit der Idee des Traums. Mütter träumen von Orten, an denen die Verschwundenen sind. Das hat mich auf dieses andere Medium Film gebracht. Ich bin auch Unterwasserarchäologe, ich tauche und interessiere mich für Seen, und in Tschetschenien haben sie von Hubschraubern aus Leichen in einen See geworfen. Das wurde ein Paradigma für die Ungewissheit, denn niemand weiß genau, wo diese Verschwundenen bleiben.

Eine markante Szene zeigt eine Hochzeit, bei der eine Lebenslust zu sehen ist, die nicht zum Klischeebild von Tschetschenien passt.

Die Hochzeitsszene führt all das zusammen, was die Rolle der Frauen in der Gesellschaft anlangt. Man sieht ein großes Selbstbewusstsein der Frauen. Die russische Besatzung und der islamistische Fundamentalismus sind Zwangsjacken, die das Leben in seiner Komplexität nicht zulassen.

Erschütternd hingegen sind die Szenen, die in den verlassenen Foltergefängnissen gedreht wurden. An einer Stelle hat jemand 2006 an die Wand geschrieben: Lebe ich noch oder bin ich schon tot?

Es gibt zwei Foltergefängnisse im Film. Diese Szene wurde schon 2006 gedreht. Dieses Gefängnis wurde danach geschlossen. Das Material hat mich so mitgenommen, weil es sich auch wieder auf das Paradigma des Films bezieht: Bin ich lebendig oder schon tot? Das ist ja kein Gedicht, kein Haiku, sondern eine existenzielle Frage in dieser Situation.

Was ist nun eigentlich die Logik der Folter in Tschetschenien: Dient sie der Einschüchterung der Bevölkerung, oder behaupten die russischen Sicherheitskräfte und die lokalen Machthaber tatsächlich, dass sie dadurch Verbrechen verhindern?

Ich glaube, da gibt es Schichten. Erstens werden Geständnisse erpresst. Denn es gibt so viele Verbrechen, man muss Resultate bei der Verbrechensbekämpfung vorweisen, das funktioniert wie am Fließband, man verhaftet einen jungen Mann, foltert ihn und hat dann einen geständigen Verbrecher. Diese Polizeiarbeit produziert Terroristen fast nach Quote, die Einschüchterung der Bevölkerung geht damit wie nebenbei einher.

"Barzakh" zeichnet sich durch eine Sanftheit aus, die im Gegensatz zu dem "männlichen Primitivismus" steht. Gibt es in der Alltagskultur Ansätze, die den Gegensatz zwischen fundamentalistischem Islam und russischer Hegemonie unterlaufen könnten?

Ich erinnere mich an diese Sufi-Rituale, man spricht von "zikr". Das ist so etwas, das die Menschen zusammenbringt, aber im Fernsehen gibt es inzwischen auch "zikrs", die von Soldaten begangen werden, die dabei Tiere töten. Ich glaube aber, dass das ursprüngliche Moment nicht vollständig verloren gegangen ist, diese Beziehungen, die sich auch in der Gastfreundschaft äußern, ein bodenständiger, persönlicher Umgang. Wenn ich auf etwas setzen müsste, dann darauf: Beziehungen zählen.

"Bazarkh", Regie: Mantas Kvedaravicius, Sektion: Panorama Dokumente, Finnland/Litauen 2011, 59. Min

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