Leuchten in den Moderatorenaugen

SENDERPORTRÄT Ein bisschen zu schön: „La maison de la radio“ von Nicolas Philibert (Panorama)

Ein älterer Radiosprecher sitzt in einem Aufnahmestudio, er ist im Begriff, ein Gedicht aus dem 17. Jahrhundert vorzutragen. Darin ist die Rede von einem „düsteren Schrei“. Statt abzulesen, denkt er laut nach: Wie klang ein Schrei vor 350 Jahren in Paris? Die Straßen waren nicht asphaltiert, Abwasserrinnen lagen offen, die Häuser waren niedriger als heute, der Schrei hatte also einen anderen Resonanzraum, und muss dementsprechend anders geklungen haben.

Die Szene ist nicht die einzige in Nicolas Philiberts Dokumentarfilm „La maison de la radio“, in der Hingabe, Handwerk und Feinsinnigkeit ein berückendes Mischverhältnis eingehen. Philibert, der mit „Être et avoir“ (2002), dem Porträt einer Zwergschule in der Provinz, bekannt wurde, schaut sich im Pariser Hauptsitz des Hörfunksenders Radio France um. Immer wieder fängt er hinreißende Augenblicke ein: Die Versunkenheit der Hörspielregisseurin, wenn sie einer geglückten Sprachaufnahme lauscht, die vergnügte Beharrlichkeit des Chorleiters, der die Sänger und Sängerinnen lehrt, wie man das deutsche Wörtchen „spritzt“ ausspricht, das Leuchten in den Augen der beiden Moderatoren, die ihrem Gesprächspartner mit unbändiger Neugier begegnen.

Arbeit als Erfüllung

„La maison de la radio“ stellt den Sender als einen Ort vor, in dem Arbeit Erfüllung ist, denn intellektuelle Auseinandersetzung, künstlerische Tätigkeit und technische Versiertheit gehen hier Hand in Hand. In Zeiten flexibilisierter Büroarbeit macht es große Freude, Leuten zuzusehen, die ihren Beruf mit Leidenschaft ausüben. Für die Angestellten von Radio France scheint das Gebot der Potenzialität – jeder Mitarbeiter kann sich binnen kurzer Zeit in alles einarbeiten – nicht zu gelten. Sie zehren von langer Erfahrung, ohne dass die Routine sie stumpf gemacht hätte.

Doch in diese halb neidvolle, halb beglückte Zuschauerwahrnehmung mischt sich, zunächst leise, dann immer lauter, Zweifel. Philibert hat sein Material im Verlauf eines halben Jahres gedreht, der Film ist strukturiert wie ein einziger Tag. Nach etwa 90 Minuten setzt die Dämmerung ein; ein junger Mann hat im Wald ein Mikrofon aufgebaut, um Atmo aufzunehmen. Das Licht wird diffus, der Tonsammler lehnt an einem Baum, ein Vogel schreit. Ein perfektes Schlussbild, doch Philibert will auf die Nacht nicht verzichten, auf die Bilder der fast leeren Büros, auf einsame Nachrichtenredakteure im Schein ihrer Bildschirme, auf die Studiouhr, die 02:59 anzeigt. Je mehr diese Coda den Film zerdehnt, desto mehr Muße hat man, sich zu fragen, ob Radio France tatsächlich ein solch idyllischer Ort ist – ohne opportunistisches Führungspersonal, ohne Quotendruck, ohne Sparzwänge. Gibt es sie wirklich, diese Insel der Seligen? Oder ist der Klassikredakteur, der gutgelaunt seine Nerdhaftigkeit auslebt, ohne dass ihm der Chef im Nacken sitzt, nicht eher der letzte seiner Art?

Hinzu kommt, dass „La maison de la radio“ für ein Institutionenporträt erstaunlich viele blinde Flecken hat. Von Putzkräften oder Empfangspersonal erfährt man nichts. Denkt man daran, wie Frederick Wiseman, der große alte Mann des US-Institutionenporträts, in seinen geduldigen Beobachtungen stets auch Konflikte und Reibereien zutage fördert, erscheint einem „La maision de la radio“ über Gebühr wohlwollend. Man wird den Eindruck nicht los, milde propagandistisch bearbeitet zu werden: Der Grande Nation und ihren Institutionen gilt die uneingeschränkte Bewunderung Philiberts. CRISTINA NORD

■ 8. 2., Cinemaxx 7, 12.30 Uhr; 12. 2., International, 17 Uhr; 13. 2., Cinestar 7, 12 Uhr; 16. 2., Cinestar 7, 12 Uhr; 17. 2., Cubix, 17.30 Uhr