Selbstbedienung im Knast

Vor Gericht bringen Zeugen Licht in den Medikamentenskandal im Untersuchungsgefängnis Moabit. Die fünf Angeklagten bedienten sich wohl großzügig, doch Zeugen trauten sich nicht, etwas zu sagen

VON UTA EISENHARDT

Die fünf Angeklagten, vier Männer und eine Frau, im Saal 1104 des Amtsgerichts Tiergarten schweigen beharrlich. Auch als sie später von Zeugen schwer belastet werden. Den fünf wird vorgeworfen, ein Jahr lang aus einer Arztstelle im Untersuchungsgefängnis Moabit Medikamente gestohlen zu haben. Sachwert: rund 2.200 Euro. Doch auch ohne die Angaben der Angeklagten wird in der Verhandlung rasch deutlich: Das Medikamentenlager der Arztgeschäftsstelle II war viele Jahre ein Selbstbedienungsladen für etliche Personen. „Es gibt keine bis aufs Komma festgelegte Weisung, wie die Bestellung der Medikamente geregelt ist“, gibt Anstaltsleiter Wolfgang Fixson beim ersten Verhandlungstag Ende April zu. „Es gibt aber auch keine Anweisung zum Büromaterial.“ Heute wird der Prozess fortgesetzt.

Vor einem Jahr kam die sogenannte Medikamentenaffäre der Justizvollzugsanstalt (JVA) Moabit ans Licht. Sie kostete den Justizstaatssekretär Christoph Flügge seinen Job und bescherte Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) unliebsame Schlagzeilen.

Von Mai 2005 bis September 2006 soll Jörg L., der 52-jährige Pflegevorsteher der Arztgeschäftsstelle, in 15 Fällen Medikamente an seine Kollegen verteilt haben: an seinen 64-jährigen Vorgänger, den Pensionär Herbert S., an den 49-jährigen Personalratschef Siegfried K., und an Rolf-Dieter M., den 56-jährigen Leiter des Moabiter Pflegedienstes. Letzterer hat sich laut Anklage auch mehrmals selbst an den Schränken bedient, genauso wie die 40-jährige Stationsschwester Ines B., die ein Psychopharmakon für den privaten Gebrauch genommen habt. Jörg L., ein schlanker Mann mit Brille und Schnauzbart, und Rolf-Dieter M., ein beleibter Vollbartträger, wurden deswegen vom Dienst suspendiert. Der unauffällige Siegfried K. und Ines B. arbeiten weiterhin in der JVA.

Nach bisherigen Erkenntnissen lief der Pillendiebstahl so ab: Per Fax wurden die Medikamente von den Pflegern in einer Apotheke in Buch bestellt, ohne dass ein Arzt diese Liste geprüft haben musste. Von den Bestellungen gab es keine Kopien, ihre Verwendung wurde nicht überprüft. Heute sagt Fixson: „Es hätte schon kontrolliert werden müssen.“ Kolportiert wird eine Weisung des Anstaltsleiters, der seinen Mitarbeitern zugebilligt habe, sich im Rahmen der Erstversorgung Medikamente der JVA zu nehmen – was offensichtlich sehr weit ausgelegt wurde.

Entdeckt wurde die Praxis erst, als die Abteilung Sicherheit der JVA immer mehr Hinweise erhielt, in der Arztgeschäftsstelle würde etwas nicht stimmen. Zunächst ermittelte man in Richtung Rauschgift. Doch schon bald erkannte man das Problem und übergab den Fall 2006 an die Staatsanwaltschaft.

Die erhielt besonders viele Hinweise vom stellvertretenden Pflegevorsteher, der erst seit April 2004 in der Arztgeschäftsstelle arbeitet. Ihm seien dubiose Medikamententürmchen aufgefallen, die auf dem Schreibtisch seines Vorgesetzten Jörg L. lagen, erklärt der Zeuge am ersten Verhandlungstag. Dabei habe es sich um Blutdrucksenker, Schilddrüsenpräparate und solche für die Behandlung von Diabetes gehandelt – alles Medikamente, die in der Pflege der Gefangenen ungebräuchlich waren. „Was ist das?“, habe er damals gefragt und zur Antwort erhalten: „Das ist für die Kollegen.“ Als er sein Missfallen bekundete, erhielt er den Hinweis, wenn er hier länger arbeiten will, solle er die Füße still halten, so der Zeuge. Später habe ihn das damalige Personalratsmitglied, der Angeklagte Rolf-Dieter M., mit Kraftausdrücken beschimpft, ihn unter Hinweis auf seinen guten Kontakt zur Anstaltsleitung verhöhnt und gesagt: Lass uns in Ruhe unsere Sache machen!

Also bedienten sich die Angeklagten weiterhin. Ein- bis zweimal wöchentlich bekam Rolf-Dieter M. ein Kuvert mit Medikamenten, alle vier bis sechs Wochen der Pensionär Herbert S. „Die Herren müssen sich so sicher gefühlt haben, dass sie sich keine Mühe gegeben haben, das zu vertuschen“, sagte der stellvertretende Pflegevorsteher weiter. Warum die Angeklagten sich die Medikamente nicht aus der Apotheke holten, will die Richterin von ihm wissen: „Bequemlichkeit“, vermutet der. „Wir kriegen das alles erstattet, wir müssen nur Rezeptgebühren bezahlen.“

Auch die 51-jährige Krankenschwester Heidemarie B., die seit November 2005 in der Arztgeschäftsstelle arbeitete, bemerkte die Selbstbedienung. Sie habe den Raum verlassen, wenn sie gehört habe: „Ach, Jörg, ich brauche noch …“ Sie habe es nicht sehen wollen, „weil es meine Kollegen waren und ich ganz neu war“. Die prägendste Erinnerung habe sie an die Bestellung eines Diabetesmedikaments. Pflegevorsteher L. solle zehn Päckchen bestellen, habe ihn Pflegechef M. gebeten. „Lieber neun Päckchen“, soll L. empfohlen haben – eine einstellige Zahl falle nicht so auf.

Die Zeugin erzählte weiter, sie werde seit Aufdecken des Skandals als Nestbeschmutzerin betrachtet und nicht mehr gegrüßt. Man würde ihr als alleinerziehender Mutter keinen Urlaub in den Sommerferien mehr genehmigen und sie mit dem Arbeitsplatzverlust bedrohen. Zuletzt habe man ihr per anonymen Anruf 5.000 Euro angeboten, wenn sie vor Gericht nicht aussagen würde. „Die letzten anderthalb Jahre waren die Hölle“, sagte die Zeugin.

Den Angeklagten dagegen droht weit weniger Ungemach, möglicherweise werden sie mit einer Geldstrafe davonkommen. Denn die Zeugen können sich kaum an konkrete Daten und Mengen erinnern. Weil es ein offenes Geheimnis war und sich regelmäßig abspielte, prägte sich niemand Genaueres ein. Juristen können aber nur für konkrete Taten verurteilen.