Die barmherzige Schwester

ENGAGEMENT Fast 20 Jahre lang hat sich Ordensschwester Chiara im Tempelhofer St.-Joseph-Krankenhaus für Bedürftige engagiert. Jetzt geht sie für ein neues Projekt nach Tansania

„Die Großzügigkeit der Stadt, die werde ich vermissen“

SCHWESTER CHIARA

VON MANUELA HEIM

Eine Ordensschwester geht nicht in Rente, sagt Schwester Chiara. Die 64-Jährige trägt den grauen Habit und ein Medaillon der heiligen Elisabeth, dazu quietschende Gesundheitsschuhe. In ihrem Büro im Tempelhofer Sankt-Joseph-Krankenhaus wirbt eine meterhohe Statue der Elisabeth für Barmherzigkeit und Bescheidenheit. Fast 20 Jahre war Schwester Chiara hier als Pflegedirektorin eines der Gesichter des sozialen Berlins. Sie engagierte sich für die Babyklappe und dafür, dass Flüchtlinge ohne Aufenthaltsstatus und Versicherungskarte in ihrem Krankenhaus behandelt werden. In dieser Woche verlässt die Ordensschwester Berlin und fängt im ostafrikanischen Tansania eine neue Aufgabe an.

Im Kern ist die Geschichte von Schwester Chiara 800 Jahre alt. Im Mittelalter mochte die fromme Königstochter Elisabeth von Thüringen (1207–1231) nicht mehr im Prunk des Hofes leben und mischte sich stattdessen unter die Armen und Kranken. Von ihrem Schlag gibt es heute nur noch wenige. Schwester Chiara war 1991 eine der letzten, die in Deutschland dem Orden der heiligen Elisabeth beitraten. Damals war sie 44 Jahre alt und tauschte eine 100 Quadratmeterwohnung in Baden gegen eine karge Ordenszelle in Berlin. „Die Reduktion aufs Wesentliche“ nennt Schwester Chiara diesen Lebenswandel.

Bevor ihr der Habit zur täglichen Tracht wurde, arbeitete die gelernte Krankenschwester in Amerika, reiste um die Welt, aß in teuren Restaurants. „Ich hatte immer große Sehnsucht nach materiellen Dingen, aber wenn ein Wunsch erfüllt war, kam der nächste.“ Die Berge, die die passionierte Bergsteigerin bewältigte, konnten irgendwann nicht mehr hoch genug sein. 1984 stirbt sie im Himalaja auf 6.000 Metern fast an der Höhenkrankheit. Damals, so erzählt Schwester Chiara, begann die „Sehnsucht nach innerem Frieden“.

Diese Sehnsucht führte sie 1991 in ein Leben, das sich die katholisch erzogene Badenerin vorher nie vorstellen konnte. Im Orden der heiligen Elisabeth lebt sie in der strengen Gemeinschaft ihrer Glaubensschwestern. Das sei ihr „Drinnen“, in dem sie bis heute ihren Frieden findet. Ohne das „Draußen“ – die Arbeit mit den Kranken und materiell Armen – wollte Schwester Chiara aber nie leben. So wurde sie zur Pflegedirektorin des Berliner Ordenskrankenhauses. 18 Jahre lang jonglierte sie zwischen dem finanziellen Überleben der Klinik und dem Ideal der heiligen Elisabeth, zwischen Barmherzigkeit und Wirtschaftlichkeit, zwischen „Drinnen“ und „Draußen“. Wenn sich die Ordensschwester im Krankenhaus zum Gebet zurückzog, hatte sie immer Zettel und Stift zur Hand. Um die drängenden Probleme aus ihrem Arbeitsalltag für die Zeit der Meditation „wegzuschreiben“.

Zum Beispiel dann, wenn Schwerkranke oder Schwangere aus Afrika, dem Kosovo, aus Asien oder Osteuropa behandelt wurden, ohne dass das Krankenhaus einen Cent daran verdiente. Schwester Chiara und ihre MitarbeiterInnen im St. Joseph gehörten zu den HelferInnen der ersten Stunde für Einrichtungen wie das Medibüro, das seit 1996 anonyme medizinische Behandlung an Menschen ohne Aufenthaltsstatus vermittelt.

„Wir haben noch nie jemanden weggeschickt“, sagt Schwester Chiara. Aber es mache sie wütend, wenn bei der Fürsorge alle auf die christlichen Organisationen bauen und „ansonsten nichts mit uns zu tun haben wollen.“ Der Staat habe sich zur medizinischen Versorgung aller Menschen im Staatsgebiet verpflichtet. Eine Aufgabe, die die Regierung nicht übernehme und sich stattdessen auf Menschen wie sie und Einrichtungen wie das Medibüro verlasse. „Aber wir können das Leid nicht allein schultern“, sagt Schwester Chiara. „Dafür versinken zu viele Menschen in der Anonymität dieser Stadt.“

Wenn Schwester Chiara nun nach Tansania geht, um ein Gesundheitszentrum zu leiten, dann vor allem, weil die Menschen sie dort auf eine ganz andere Art bräuchten als hier in Berlin. Vielleicht auch, weil so augenscheinliche KatholikInnen wie sie es schwer haben in einer Stadt wie Berlin. In Tansania werde sie schon erwartet, sagt Schwester Chiara. Ihren Posten als Pflegedirektorin des St.-Joseph-Krankenhauses wird zum ersten Mal seit 83 Jahren keine Ordensschwester übernehmen. Es gibt eben nicht mehr viele wie sie. Und vielleicht, sagt Schwester Chiara ohne Gram, werde diese Art der Gemeinschaft irgendwann ganz durch andere ersetzt.

In Vorbereitung auf ihre neue Heimat hat sich Schwester Chiara eine Menge Vokabeln auf Swahili auf ihre alten Visitenkarten geschrieben. Nach Tansania reist sie ansonsten mit wenig eigenem Gepäck – und am Ende doch ein bisschen wehmütig. „Die Großzügigkeit der Stadt, die werde ich vermissen. Obwohl ich sie nie gebraucht habe.“