Die fröhliche Blockade nach dem Jawort

RECLAIM THE STREETS Hupende Hochzeitskorsos stoppen für ein kurzes Tänzchen mitten auf der Straße

Einmal? Kann vorkommen. In Berlin passiert ja viel Absurdes. Zweimal? Kann Zufall sein, weil in Berlin passiert ja … Aber dreimal? Ab dem dritten Mal ist es ein Trend. Erst recht in der Trendstadt Berlin.

Das erste Mal vor drei Wochen. Ein Ausflug zum Breitscheidplatz, der Besuch aus dem Westen will dahin. Einer dieser hupenden Hochzeitskorsos rauscht vorbei. Kennt man ja. Vorneweg ein möglichst protziger Daimler oder Ähnliches. Dahinter geht es zur Not eine Nummer kleiner. Hauptsache, die Hupe funktioniert. Diesmal zieht der Tross nicht einfach vorbei, er stoppt. Heraus springt das Brautpaar und beginnt zu tanzen. Auf dem Bürgersteig am Breitscheidplatz. Eine, zwei, drei Drehungen zu laut wummernden Beats aus den Boxen der Beiwagen. Passierende Touristen bleiben stehen, lachen, zücken die Kamera. Schön.

Das zweite Mal am Samstag: Schon wieder Westbesuch, schon wieder Breitscheidplatz. Und schon wieder erst das Hupen, das Stoppen, das tanzende Paar. Diesmal mitten auf der Straße, auf der mittleren Fahrbahn, zwischen Bus- und Überholspur. Erst tanzt nur sie im wuchtigen Kleid mit ihm im schnieken Anzug, dann die halbe Hochzeitsgesellschaft. Die Passanten machen ihre Fotos.

Das dritte Mal nur eine Stunde später in Kreuzberg. Oranienstraße, Ecke Adalbert. Wummernde Musik, im Halbkreis tanzenden Türken – oder sind das Araber? Egal. Drumherum wird fotografiert. Der Rest steht im Stau. Und hupt. Aber das gehört ja dazu beim Hochzeitskorso. Von hinten drängelt sich ein Auto am Stau vorbei, braust auf die Tänzer zu. Der Fahrer springt wild gestikulierend raus – und tanzt mit.

Ganz klar: ein Trend. Im Wedding – so berichten Ortskundigen – soll es das schon länger geben. Hochzeitstänzchen auf der Straße. Vor allem bei den dort feiernden Sinti und Roma. Aber in Kreuzberg? Oder an der Gedächtniskirche?

Anarchische Tänzer, die sich die Straße erobern, ganz neu ist das nicht. Um die Jahrtausendwende hieß das „Reclaim the Streets“. Party mit Anspruch. Es ging um die Rückeroberung des öffentlichen Raums. Was das praktisch bedeuten kann, zeigen nun die Hochzeitstänzer. Doch ihr Straßenfest ist kein Protest gegen PS-starke Vehikel. Im Gegenteil, sie sind elementarer Bestandteil der Performance. Für die Anreise. Um die Tanzfläche gegen feindlichen Verkehr abzuschirmen. Und für die Weiterfahrt nach wenigen Minuten Ausgelassenheit. GEREON ASMUTH