Berliner Mauer 1989: Der letzte Mauertote

Vor 20 Jahren wurde Chris Gueffroy an der Berliner Mauer erschossen. Der Medienrummel um seinen Tod und das politische Tauwetter führten zur inoffiziellen Aufhebung des nie offiziellen Schießbefehls.

Trauergäste bei der Beerdigung von Chris Gueffroy am 23. Februar 1989 Bild: AP

Es ist kurz vor Mitternacht am 5. Februar 1989. Chris Gueffroy und sein Freund Christian haben sich an einem Wurfanker über die erste Mauer gezogen. Als sie durch den Zaun kriechen, löst das den Alarm aus. Die Grenzposten entdecken die beiden und schießen. Zunächst auf die Füße. Gueffroy versucht seinem Kumpel über das nächste Hindernis zu helfen. Dann trifft ihn die tödliche Kugel. Er ist 20 Jahre alt. Es ist das letzte Mal, dass das Gewehr eines DDR-Grenzers an der Berliner Mauer einen Flüchtling tötet. Es wird noch neun Monate dauern, bis die Mauer fällt.

In den Wochen nach dem Tod des jungen Kellners wird klar, dass diese DDR eine andere ist als jene, in der SED-Generalsekretär Erich Honecker Mitte der 70er-Jahre in einer geheimen Sitzung verkündete, bei "Grenzdurchbruchversuchen" sei von der Schusswaffe "rücksichtslos" Gebrauch zu machen. Diese Brutalität kann sich der SED-Staat Anfang 1989 nicht mehr leisten. Die Kugeln auf Gueffroy tragen dazu bei, dass ein Befehl, den es offiziell nie gegeben hat, inoffiziell aufgehoben wird.

Zunächst allerdings versucht das Regime den Vorfall zu vertuschen. Gueffroys Mutter wird erst zwei Tage nach dessen Tod von der Stasi informiert, dass ihr Sohn bei einem Angriff auf die "militärische Sicherheitszone" schwer verletzt wurde und starb. Aber Karin Gueffroys zweiter Sohn schaltet in der Berliner Zeitung kurz vor der Beerdigung eine Traueranzeige, in der von einem "tragischen Unglücksfall" zu lesen ist. Die Stasi traut sich nicht, die Veröffentlichung zu stoppen. Zu viel haben Gueffroys Mutter und sein Bruder ihren Freunden über ihre düsteren Vermutungen zu den wahren Todesumständen berichtet. Im Ministerium für Staatssicherheit fürchtet man zusätzliche Vertuschungsvorwürfe, wenn man allzu offensichtlich eingreift.

Nach der Publikation der Anzeige stellen Westkorrespondenten die Verbindung zu den Schüssen an der Mauer her. Zu Gueffroys Beisetzung kommen nicht nur etliche Stasi-Spitzel, sondern auch Journalisten aus der BRD. Die Zeitungen sind voll von dem Fall. Erich Honecker wird nervös. Er spürt seit Längerem das Tauwetter aus Moskau. Mit seinen Formulierungen über die Mauer, die nötigenfalls noch hundert Jahre stehen bleiben müsse, fühlt er sich im Ostblock zusehends isoliert. Erst Mitte Januar hatte er auf der KSZE-Folgekonferenz ein Dokument unterzeichnet, das festschrieb, "dass es jedermann freisteht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen und in sein Land zurückzukehren". Die Sowjetunion hatte Honecker dazu gedrängt.

Am 3. April 1989 informiert der Minister für Nationale Verteidigung, Generaloberst Streletz, die Führung der Grenztruppen über ein Gespräch, das er mit Egon Krenz, dem ZK-Sekretär für Sicherheit, geführt habe. Honecker, habe Krenz gesagt, sei unzufrieden, dass es "zu solchen schwerwiegenden Vorkommnissen" an der Grenze kommen könne. Gemeint ist Gueffroys Tod. Außerdem: Wenn der Verteidigungsminister behaupte, dass kein Schießbefehl existiert, "dann darf man auch an der Staatsgrenze nicht schießen, oder der Verteidigungsminister verliert an Glaubwürdigkeit". Neuer Grundsatz: "Lieber einen Menschen abhauen lassen."

Das war die inoffizielle Aufhebung einer inoffiziellen Anweisung. Bis dieser Geheimbefehl zur Aufhebung des geheimen Befehls sämtliche Grenztruppen erreicht hatte, dauerte es. Wenige Tage nach der Unterrichtung, am 8. April, wurden am Grenzübergang Chausseestraße noch einmal Warnschüsse abgefeuert.

Kein Jahr nach Chris Gueffroys Tod erstattet dessen Mutter beim Generalstaatsanwalt der DDR Anzeige gegen unbekannt. Der Prozess gegen vier Soldaten im folgenden Jahr offenbart, wie innerhalb der DDR-Grenztruppen mit Todesschützen umgegangen wurde. "Ein kaltes Büffet, eine Geldprämie von 150 Mark, ein paar Tage Sonderurlaub und eine Auszeichnung", vermerkt der Prozessbeobachter der Zeit. Das habe es als Belohnung gegeben. Das Landgericht Berlin verurteilt den Grenzer, dessen Kugel Gueffroy traf, zu zwei Jahren auf Bewährung.

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