Die anonymen Anwohner

DAS LEISE DORF Seit 35 Jahren gibt es den Kreuzberger Biergarten Golgatha. Jetzt hat er neue Nachbarn. Einige sind zum Problem geworden: Sie rufen die Polizei, weil ihnen ein Biergarten mitten in der Stadt zu laut ist

Einer dieser vielen Balkone muss es sein. Auf dem muss er stehen, wenn ihn der Zorn packt beim Blick zum lauten Biergarten hinüber. Hat er die Nummer der örtlichen Polizeidienststelle schon ins Handy gespeichert? Oder freut er sich gerade einfach über den Herbst, hier am Rande des Kreuzberger Vikoriaparks, in seiner neuen Eigentumswohnung, in die Kälte und Regen jetzt endlich Ruhe haben einkehren lassen?

Denn jetzt, im November, lärmt keiner mehr auf den Bänken des Biergartens Golgatha: keine Touristen, die ihren Reiseführern hierher gefolgt sind. Keine Fußballfans, die auf die Leinwand unter freiem Himmel blicken. Keine Nachbarn, die ihr Feierabendbier an der frischen Luft trinken.

Das Golgatha ist am 15. Juli 35 Jahre alt geworden, fünf Tage zuvor kam die Polizei. Wegen Ruhestörung durch die Biergartengäste. Gerufen von ihm. Oder von ihr. Von Anwohnern jedenfalls, die in den letzten Jahre in Eigentumswohnungen gezogen sind, die die bayerische Immobilienfirma Baywobau direkt neben den Biergarten gebaut hat.

„Erstmals in seiner Geschichte wurde das Golgotha geräumt“, schrieben die Biergartenbetreiber danach in einem Aushang. „Die Geschäftsleitung des Golgatha wurde durch die Einsatzbeamten aufgefordert, auf die Gäste im Außenbereich des Lokals dahingehend einzuwirken, sich ruhiger zu verhalten“, schreibt die Polizei auf Anfrage.

Die Beschwerde über den Biergarten im Juli war weder die erste noch die letzte ihrer Art. Deshalb hat das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg eine Mediation organisiert mit Biergartenbetreibern, Gästen und Nachbarn. Vor der letzten Mediationsrunde Ende November spricht keiner von ihnen mit der Presse. Die Biergartenbetreiber dürfen nicht, der Beschwerdeführer will nicht. Er geht zwar an sein Handy, legt aber sofort wieder auf.

Wohl weil er in eindeutiger Unterzahl ist. Über 100 Eigentumswohnungen gibt es in dem Block neben dem Golgatha. Aus gerade einmal zwei kommen die Klagen. So herrscht jetzt Schweigen rund um Berlins neuesten großen Lärmkonflikt.

Alle warten auf das Ergebnis der Mediation. Alle hoffen, dass das Golgatha kein neues Knaack wird. Kein Klub der Republik, kein Magnet, kein Icon. Keine Kreuzberger Version des Clubsterbens der vergangenen Jahre, für das die Zugezogenen mit ausgeprägtem Ruhebedürfnis in Prenzlauer Berg gesorgt haben.

In Kreuzberg nahe dem Golgatha stehen an einem Abend Ende Oktober einige Anwohner im Innenhof ihrer Eigentumswohnungen, rund um den Spielplatz. Sie wollen ja eigentlich nichts sagen. Eine Frau äußert sich schließlich doch: „99 Prozent von uns hier haben kein Problem mit dem Golgatha, sondern gehen gern und oft dahin und wollen das auch in Zukunft tun.“ Denn die meisten hier wüssten ganz genau, wo sie vor Kurzem hingezogen sind: in einen Szenekiez. Nach Kreuzberg. Wo die Nächte immer noch lang und laut sind. SEBASTIAN PUSCHNER