Die nicht einholbare Perspektive

Daniela Ott liegt im Wachkoma. Ihr Bruder, der Regisseur Peter Ott, hat in „Gesicht und Antwort“ ihren ungefähren Tagesablauf dokumentiert

Die künstlerische Subjektivität liegt nicht im Blick, sondern im Angeblickten

VON LUKAS FOERSTER

Am Anfang liegt Daniela Ott im Dunkeln auf ihrem Krankenbett, gelagert auf Spezialkissen, den Kopf der Kamera zugewandt. Eine andere Frau hat das Zimmer betreten und öffnet die Vorhänge, die Kamera bleibt bei der Liegenden, rückt sogar noch näher an sie heran, fokussiert zum ersten Mal ihr Gesicht. Daniela Ott liegt im Bett und blickt in die Kamera; sie blickt auch weiter, wenn sie umgebettet wird, wenn sie gefüttert wird, wenn sie im Rollstuhl sitzt und aus dem Zimmer geschoben wird – ein besonders seltsames Bild ist das, weil seine starren Elemente vor dem Hintergrund der Bewegung noch deutlicher hervortreten. Daniela Ott hat keine Möglichkeit, verbal zu kommunizieren oder sich in der Alltagswelt zu bewegen, und sie benötigt Unterstützung bei fast allen alltäglichen Handlungen.

Der Dokumentarist Peter Ott („Übriggebliebene ausgereifte Haltungen“) hat einen Film über seine Schwester gedreht, die seit einem Unfall in ihrem 15. Lebensjahr im Wachkoma liegt. „Gesicht und Antwort“ versucht, eine dieser Situation angemessene filmische Form zu finden. Zuallererst durch Reduktion: Fast ausschließlich besteht der Film aus Aufnahmen – meistens: Großaufnahmen – des Körpers oder einzelner Körperpartien Daniela Otts. Lange hält der Film diese Einstellungen, auch in Momenten, in denen gar nichts geschieht. Nicht nur an das Gesicht rückt die Kamera heran, auch zum Beispiel an die krampfartig gekrümmten Hände und Füße der Frau.

Trotz dieser selbst auferlegten Beschränkungen vollzieht Peter Otts Film einen ungefähren Tagesablauf nach. Am Filmanfang wird es hell, am Filmende dunkel. Dazwischen Besuche, mehrere Transporte, zwei Mahlzeiten, physiotherapeutische Behandlung – und viel leere Zeit. Die unterschiedlichen Menschen, mit denen Daniela Ott interagiert, so gut es eben geht (und mit der Zeit merkt man: ein wenig geht es eben doch), sieht man höchstens am Bildrand, oft nur ausschnitthaft oder von hinten, die Worte, die sie an die Frau im Krankenbett oder aneinander richten, wehen gelegentlich in den Film hinein, verdichten sich aber nie zu einer wirklichen Ansprache, zu einem Gespräch oder zu einem Diskurs.

Ein Film fast ohne Sprache, das ist Peter Ott wichtig. Verbale Äußerungen in Gegenwart der Sprachunfähigen hätten eine „Kumpanei des Zuschauers mit dem Sprechenden“ zur Folge gehabt, meint er in einem Statement zum Film. Das ist einerseits nicht ganz falsch, andererseits dürfte man dann überhaupt keine Filme über Blinde drehen. Und dass man auf die Sperrung der Sprache mit der Verabsolutierung des Blicks antwortet, ist auch nicht selbsterklärend. Die Blickkonstellation macht den Reiz und durchaus auch die außergewöhnliche Härte von „Gesicht und Antwort“ aus. Der Film rückt nah heran an das Gesicht, dessen Porträt er neben manchem anderen ist, aber er bleibt doch außen (mit Ausnahme einer besonders verstörenden Einstellung, die gewissermaßen am Gesicht entlangfilmt), sucht nicht den Point of view, die Identifikation mit der in vieler Hinsicht nicht einholbaren Perspektive Daniela Otts.

„Darstellung: Daniela Ott – Abbildung: Peter Ott“ heißt es im Abspann. Der Ort der künstlerischen Subjektivität liegt, so will es zumindest der Film, nicht im Blick, sondern im Angeblickten. Tatsächlich kehrt sich die Insistenz des sich nicht abwendenden mechanischen Blicks irgendwann und dann immer wieder um: „Was wir sehen, blickt uns an“, wie es bei Georges Didi-Huberman in einem anderen Zusammenhang heißt. Daniela Otts direkter Blick in die Kamera – sie scheint wiederholt die Linse mit den Augen zu suchen, dieser Eindruck mag aber auch täuschen und schon ein Effekt der außergewöhnlichen Ästhetik des Films sein – destabilisiert das zunächst strikt hierarchisch wirkende Setting des Films.

Was jede/r Einzelne im Kino – das Berliner Arsenal zeigt den Film nur einmal, am Donnerstag um 20 Uhr, man sollte diese möglicherweise auf längere Sicht einmalige Gelegenheit nutzen – mit diesem zurückgeworfenen Blick, genauer: mit diesem Blickwechsel, anfängt, ist damit noch lange nicht sicher. Ob er/sie ihn annimmt oder zurückweist, wie er/sie ihn in Beziehung setzt zu seinem/ihrem eigenen Blick, welche Umwertungen im Körper- und Menschenbild des/der Blickenden er zur Folge hat: All das kann und will der Film nicht festschreiben. Zunächst einmal schafft „Gesicht und Antwort“ eine Leerstelle: da, wo in anderen Filmen Geschichten sind oder Deutungsangebote oder Andockpunkte für Empathie, für emotionalen Nachvollzug, ist hier nur ein Blick. Die Antwort muss jede/r selbst finden.

■ „Gesicht und Antwort“: Donnerstag, 20 Uhr im Arsenal. In Anwesenheit des Regisseurs Peter Ott