Vorsprung durch Technik

VORAUS Arte hat sechs Filmcrews ins einst ewige Eis geschickt. Zurückgekehrt sind sie mit stundenlangen Dokumentationen und einem 360-Grad-Film. Das war teuer, beweist aber die Innovationskraft des Senders

VON JÜRN KRUSE

Wolfgang Bergmann hat einen Brief verteilt. Drei Seiten lang. Den Platz braucht der Arte-Geschäftsführer auch, um allen Besuchern der Pressevorführung sein jüngstes Projekt „Polar Sea 360 Grad“ zu erklären. Das umfasst 540 Minuten Dokumentationen, ein Logbuch, 360-Grad-Filme im Netz und die Möglichkeit, sich darin mit dem Smartphone zu bewegen. Inhaltlich soll anhand einer Reise durch die Arktis versucht werden, „den Klimawandel zu kommunizieren“, wie Bergmann es formuliert. Dafür brauche es diese „andere mediale Herangehensweise“.

Für die steht Thomas Wallners Team, das mit einer selbst gebauten 360-Grad-Kamera auf die Reise ging. „Ich bin Dokumentarfilmer, doch das war etwas völlig Neues“, sagt Wallner. Während die Macher normalerweise hinter der Kamera stehen, sind sie beim 360-Grad-Panorama ständig im Bild. „Wir mussten uns immer verstecken“, sagt Wallner, „in Gletscherspalten schmeißen oder unter Autos kriechen.“ In Eislandschaften hätten sie sich auch schon mal weiß angezogen auf den Schnee gelegt.

Die Nordwestpassage

Der Auftakt von „Polar Sea“ ist konventionell. Am Samstag greift Arte das Thema im Fernsehen mit dem 90-minütigen Film „Polar Sea – Die Eroberung der Nordwestpassage“ auf, ab Montag folgt die zehnteilige Doku-Reihe „Polar Sea 360 Grad – Per Anhalter durch die Arktis“. Darin durchquert der Schwede Richard Tégner mit zwei Freunden auf einem Segelschiff die Nordwestpassage, jenen sagenumwobenen Seeweg vom Atlantik zum Pazifik.

Die drei Skandinavier stehen symptomatisch für „Der neue Mount Everest“, den Titel des ersten Teils. „So, wie immer mehr Menschen auf den Mount Everest klettern, weil sie es eben können“, erzählt der Sprecher aus dem Off, „kommen immer mehr Neugierige in die Arktis.“ In Ilulissat in Grönland, einer Zwischenstation ihrer Reise, haben so viele Boote festgemacht, dass die Freunde kaum einen Platz im Hafen finden.

Der Weg von Richard, Martin und Bengt ist auch der rote Faden für den Onlineauftritt. Entlang ihrer Route treffen sie auf einheimische Inuit, Wissenschaftler, Künstler, Abenteurer. Deren Geschichten verknüpfen das lineare TV-Angebot und den Onlineauftritt auf polarsea360.com. Hier werden die ProtagonistInnen mit ihren Beiträgen vorgestellt, wie die Inuit-Künstlerin Nive Nielson, die mit ihren Liedern vor den Gefahren der wirtschaftlichen Ausbeutung ihrer Heimat warnt. „Wir zeigen die Arktis, wie sie noch niemand gesehen hat“, sagt der kanadische Dokumentarfilmer Kevin McMahon.

Selbst die Kamera führen

Im Web-Logbuch ist auch die spektakulärste Aufbereitung des Themas zu sehen: die 360-Grad-Aufnahmen von Thomas Wallner und seinen Mitarbeitern. In Videos und einem 30-minütigen Film kann im Browser mit Maus und Cursortasten nach oben, unten, links und rechts geschwenkt werden, auf dem Smartphone wird die Kamera durch Bewegungen gesteuert.

Als Bergmann vor über drei Jahren das „Polar Sea“-Projekt in Angriff nahm, war an eine solche Umsetzung noch nicht zu denken. Die Technik hat sie überholt. „Es war das Gefühl, als ob man in einen ICE einsteigt und aus einer Rakete aussteigt“, sagt Kai Meeseberg, Verantwortlicher des Onlineauftritts bei Arte Future.

Allein die aufwendige Webpräsenz, zu 80 Prozent vom kanadischen Bell Fund gefördert, verschlang 400.000 Euro. Arte trug die Hälfte der Gesamtkosten des insgesamt zwei Millionen Euro teuren Projekts, das von deutschen und kanadischen Partnern finanziert wurde. Viel Geld, mit dem der deutsch-französische Sender aber erneut seine Innovationskraft beweist. Vielleicht diesmal sogar ein bisschen zu eifrig. Denn der 360-Grad-Film wurde auch für die Oculus Rift aufbereitet, die Virtual-Reality-Brille, deren Erfinderfirma vor Kurzem von Facebook geschluckt wurde. Auf dem deutschen Konsumentenmarkt sind die Brillen noch nicht angekommen. „Und wir haben schon die Inhalte, die Bilder, die Geschichte dafür“, schreibt Bergmann in seinem Brief: „Eigentlich viel zu früh.“

„Polar Sea“; Sa., 29. 11., 20.15 Uhr; „Polar Sea 360 Grad, Doku-Reihe, ab Mo., 1. 12., 19.30 Uhr; Web: polarsea360.arte.tv; App: für iOS und Android