Wenn ich mir etwas wünschen dürfte,

dann würde ich die Frauen von vor 100 Jahren, die Vorkämpferinnen für unsere Rechte, gern einen Tag lang durch mein Leben im heutigen Deutschland führen. Sie sollten sehen, wie viel wir erreicht haben: Eine Frau kann alles werden, auch Wissenschaftlerin oder Kanzlerin. Aber auch heute ist die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen immer noch nicht so selbstverständlich, dass Quoten und Gleichstellungsbeauftragte schon historische Erinnerungen sind. Es gibt noch immer zu viele Frauen, die weniger verdienen als der männliche Kollege mit gleicher Leistung. Frauen arbeiten häufiger in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen als Männer und ihr Armutsrisiko ist höher.

Deswegen wünsche ich mir noch etwas: dass sich zu diesem 100. Frauentag auch die Männer aufgefordert fühlen, über sich nachzudenken. Ich bin überzeugt: Sie haben viel zu gewinnen. Als ich Kind war, war den Männern noch klar vorgegeben, wie und was sie zu sein hatten: Familienernährer, Haushaltsvorstand, Entscheider. Wenn junge Väter heute selbstverständlich Elternzeit nehmen, wenn ich sie in Berlin mit ihren Kindern auf den Spielplätzen sehe, dann haben sie keine alte Rolle aufgegeben, sondern eine neue, positive hinzugewonnen.

Wir sollten es den Männern aber auch leichter machen, ein neues Selbstverständnis zu leben: Bitte keine schiefen Blicke mehr, wenn der junge Vater früher das Büro verlässt, weil er zum Elternabend will. Wir Frauen sollten aufhören, den neuen Mann, Typ „Partner“, zu fordern, uns aber insgeheim den „starken“ Mann mit dem alten Rollenverständnis zu wünschen.

Es liegt noch ein gutes Stück Arbeit vor uns, bis Wunsch und Wirklichkeit zusammenkommen. Wie lange das noch dauern wird? Ich weiß es nicht. Aber sicher keine 100 Jahre.

ANGELA MERKEL, 56, BUNDESKANZLERIN