Die Türkei feiert den Einzug ins Viertelfinale: Auf nach Wien! Auf nach Brüssel!

Die Türkei hat das EM-Viertelfinale erreicht. Das Land befindet sich im Freudentaumel und wähnt sich ein Stück weiter auf dem Weg nach Europa.

Auch diese Türkinnen in Frankfurt können ihr Glück kaum fassen. Bild: ap

ISTANBUL taz "Großes Lob für alle", titelte gestern die größte türkische Zeitung Hürriyet über die gesamte Frontpage und kann sicher sein, damit genau die Stimmung der Nation getroffen zu haben. Der 3:2-Sieg über die Tschechen ist tatsächlich ein Geschenk für die Türken, welches in seiner Bedeutung weit über einen Sieg in einem Fußballspiel hinausgeht. Sicher, es war nicht das erste Mal, dass Istanbul nach einem großen Fußballsieg die halbe Nacht im Freudentaumel verbrachte. Hupende Fankolonnen am zentralen Taksim-Platz oder auf der Bagdad Caddesi, dem Prachtboulevard auf der asiatischen Seite der Stadt, gibt es immer wieder. Doch dieses Mal ist es mehr als das übliche Fanritual. Die EM-Siege sind wie Erlösung aus dem Elend des allgegenwärtigen Augenblicks. Zum zweiten Mal nach dem 2:1-Sieg gegen die Schweiz ist praktisch in letzter Sekunde ein Wunder passiert. Ein Wunder, das man sich auch für die ernsten Bereiche des Lebens wünschen würde. Das gilt für die Innen- wie auch für die Außenpolitik. Es ist zwar Zufall, dass das kommende Viertelfinalspiel gegen Kroatien in Wien stattfindet, doch es ist ein Zufall mit hohem Symbolwert. Die Türken vor Wien ist eine historische Reminiszens, auf die im EU-Beitrittsprozess immer wieder verwiesen wurde, und nun ist es eben der dritte Anlauf, "Wien und Europa zu erobern" - mit friedlichen, fußballerischen Mitteln. Das es dabei auch noch gegen den aktuellen Mitbewerber um die EU-Mitgliedschaft, Kroatien, geht, ist eine Pikanterie am Rande. Wenn wir es im Fußball schaffen können, geht es vielleicht auch im realen Leben, mag so mancher denken. Die türkische Nationalmannschaft verströmt jedenfalls neue Hoffnung, wo sich längst Resignation breit gemacht hatte. Mehr noch als für die Außenpolitik gilt das aber für die derzeitige innenpolitische Situation. Wohl noch nie war ein großes Fußballturnier so sehr eine willkommene Ablenkung vom bedrohlichen, entsetzlich nervenden innenpolitischen Alltag wie derzeit. Kopftuch rauf oder runter, Militärputsch ja oder nein, AKP-Verbot, Neuwahlen - seit mehr als einem Jahr werden die Menschen in der Türkei nun schon mit einem andauernden gesellschaftlichen Ausnahmezustand gequält. In solch einer Situation tut von Zeit zu Zeit Ablenkung not. Umso besser, wenn diese Ablenkung in zwei Fußballwundern besteht, die die Nation kollektiv verzaubert haben und wieder Optimismus haben aufkommen lassen. In den Kneipen und Cafés Istanbuls verspürte man von Beginn der Europameisterschaft an den festen Willen, sich dieses Fest nicht durch den politischen Alltag vermiesen zu lassen. Für den erwarteten Fall, dass die eigene Mannschaft ausgeschieden wäre, hatten alle bereits ihre Ersatzfavoriten parat: Die Portugiesen seien "sehr sympathisch", die Holländer spielten "klasse Fußball". Umso größer die Freude, dass jetzt tatsächlich die eigene Mannschaft im Viertelfinale steht und die Politik immer weiter in den Hintergrund rückt. "Dieses Jahr keine Parlamentsferien", "Oberster Richter trifft Armeechef" - War da was? Im Moment interessiert nur eins: auf nach Wien. Wer die Tschechen geschlagen hat, kann auch die Kroaten schaffen. Zumindest der türkische Fußball ist im Zentrum Europas angekommen.

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