Die nächste Sekunde

Den 100-Meter-Sprint in weniger als 9 Sekunden laufen? Nur eine Frage der Pharmazeutik. Von INES GEIPEL

Maurice Greene erwartet ein 100-Meter-Rennen, das man sich in Zeitlupe ansehen muss, weil es bei sechs Sekunden liegt

Die Phelpsomanie im Pekinger Schwimmwürfel hatte den samstäglichen 100-Meter-Weltrekord von Usain Bolts im Vogelnest nebenan schon angekündigt. 9,69 Sekunden! „Ich wusste, dass es so passieren würde“, kommentierte das jamaikanische Fabelwesen seinen Weltrekord und kaute auf der Pressekonferenz lässig ein paar Nuggets. Man mag es nicht mehr hören, diese unendlich blöden Geschichten: Mein Leben als Sprinter besteht darin, bis mittags zu schlafen, dann esse ich jede Menge Streuselkuchen oder eben Nuggets, schau mal nach dem Pekinger Himmel und laufe hernach – jedenfalls, wenn ich ab achtzig Meter den Turbo ausschalte und am Start für den späteren Jubel schon mal die goldenen Spikes öffne – dem Feld wenigstens drei Meter voraus. Doping, bitte was? Da kann ich nur lachen.

Bolts lacht also. Warum auch nicht. Die Schwimmer haben vorgelegt, die Leichtathleten ziehen diese Woche nach. Was sollen sie auch machen? Angel Heredia, der mexikanische König der Doping-Dealer für die US-amerikanische Leichtathletik-Elite, antwortete jüngst im Spiegel auf die Frage „Können Drogen aus jedem Menschen einen Weltrekordler machen?“, am Schluss machten die besten Drogen den Unterschied aus. „Es ist alles eine große Komposition, eine Symphonie. Alles ist mit allem verbunden. Es gibt keinen Spielraum für Fehler. Von acht Läufern im 100-Meter-Finale werden acht gedopt sein.“

Auf einen Fehler in dieser Kategorie braucht man in Peking nicht zu hoffen. „Wir müssen ein, zwei Jahre voraus sein. Wir müssen wissen, welches Medikament wo in die Forschung kommt oder bei Tieren eingesetzt wird, wie wir es besorgen können. Und wir müssen die Methoden der Tester kennen“, sagt Mister Angel. Auf diese Weise konnte er in den vergangenen Jahren noch jedes seiner chemischen Objekte sicher über die Ziellinie bringen. Jamaikaner wie US-Amerikaner waren unter seinen Kunden, darunter Boxer, Fußballer und Leichtathletikstars wie Justin Gatline, Maurice Greene oder Marion Jones, die – obwohl immerhin 164-mal getestet – durchweg negativ geblieben war.

Dass Heredia nun so freimütig sein Dealer-System offenlegt, ist das stärkste Indiz dafür, dass er „verbrannt“ ist, und das beunruhigendste dafür, dass die Pharma-Karawane längst weiter gezogen ist. Phelps und Bolts haben mit ihrer arroganten Lässigkeit die sichere neue Ära eindrücklich demonstriert. Stellt sich höchstens die Frage, warum die bekannt gewordenen chemischen Durchbrüche dennoch kaum Eingang in die Berichterstattung finden. Oxygent, Fluosol, Actovegin als künstliche Sauerstoffverbesserer? Die neuen anabolikaähnlichen SARMS? Diverse EPO-Mimetika? Gendoping, mit bereits oral zu applizierenden Myostatinblockern und ebenso leicht zu konsumierendem HIF? VEGF-2 und PPAR-delta? Oder die erst kürzlich offenbar gewordenen Stammzellentherapien ausschließlich zur Leistungsverbesserung? Die Welt der chemischen Symphonien ist längst unergründlich geworden, das Überführungsrisiko an der vordersten Front der Eliteathleten gleich null.

In den vergangenen hundert Jahren hat sich der Weltrekord der Männer im 100-Meter-Sprint um etwa eine Sekunde verbessert. Einer der letzten Rekordhalter in der Königsdisziplin, der Heredia-Stammkunde Maurice Greene, sagte kürzlich ein Rennen voraus, das man sich in Zeitlupe ansehen müsse, weil es bei sechs Sekunden liegen werde. Ein Menetekel, falls Usain Bolts in einem der nächsten Rennen nach 80 Metern doch noch die Handbremse löst? Offensichtlich wusste Greene, wohin die Reise geht. Hundert Jahre wird es für die nächste Sekunde nicht mehr brauchen. Das ist so sicher wie die Siege von Phelps und Bolts.

Ines Geipel, 48, war Hochleistungssportlerin in der DDR und lehrt heute als Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch