KOMMENTAR DES TAGES
: Lasst die Spiele in Ruhe!

Auch Chinesen sind Menschen. Schön, dass das Aus für Leichtathletik-Superstar Liu Xiang, der wegen einer Achillessehnenverletzung seinen Antritt zum 110-Meter-Hürdenvorlauf zurückzog, uns daran erinnert. China im Schock! Millionen Menschen weinen! Was nun?

Bei aller Sympathie für amerikanische Menschenrechtler, die ein paar Stunden chinesischer Haft auf sich nehmen, um daran zu erinnern, dass man es bei diesem Land mit einem autoritären Staat zu tun hat, bei allem Respekt für die Kollegen vor Ort, die morgens erst einmal „Falun Gong“ in ihren Computer eintippen und den aktuellen Stand in Sachen Zensur der Berichterstattung übermitteln, bevor sie sich einer Randsportart widmen – das ist nicht das, wovon Olympische Spiele handeln.

Es geht um die große Geschichte von Aufstieg und Fall und darum, wie Sportlerinnen und Sportler sie für sich erzählen. Wie eine Schwimmmannschaft absäuft, aber eine Schwimmerin zweimal die Goldmedaille gewinnt. Wie ein Turner als Hoffnung in die Wettbewerbe geht und mehrmals ausgerechnet an dem Gerät scheitert, das er am besten beherrscht. Wie langweilig die übermenschliche Leistung eines Schwimmers sein kann, der mit der Ankündigung, acht Goldmedaillen zu gewinnen, anreist und dann acht Goldmedaillen gewinnt.

Wie viel dramatischer ist dagegen die Geschichte von Liu Xiang, der sich nur für einige Minuten auf der Tartanbahn zeigt, um nach dem Fehlstart eines anderen Läufers nicht noch einmal zum zweiten Lauf anzutreten. In Athen hatte er noch gewonnen, als erster chinesischer Leichtathlet bei Olympischen Spielen überhaupt, nun, in Peking, inmitten der Medaillenflut, macht der rechte Fuß nicht mit!

Auch Doping ist Teil dieser Erzählung, als ewiger Versuch, sich einen Vorteil zu verschaffen, der manchmal gelingt und manchmal nicht. Aber Doping ist Teil des Sports, so wie Schummeln Teil der Klassenarbeit ist.

Die Olympischen Spiele sind (und waren schon immer) eine Veranstaltung, die nach der Logik des Spektakels funktioniert. Es ist wichtig, auf all die schlimmen Dinge aufmerksam zu machen, die den Rahmen dieser Veranstaltung bilden. Von vertriebenen Wanderarbeitern bis zu kleinen Kindern, die in Sportschulen malträtiert werden. Aber wer daraus den eigentlichen Inhalt der Spiele macht, jeden Sportler einem Gesinnungstest unterwirft und Sympathiepunkte als Menschenrechts-B-Note vergibt, übersieht, dass dies nur der Rahmen ist, in dem die Spiele stattfinden. TOBIAS RAPP