Rot vor Wut

ARGENTINIEN Maradonas lässiger Führungsstil lässt jeden Obsthändler denken, er selbst sei mindestens genauso kompetent wie der Nationaltrainer. Und die Mittelschicht schäumt

■  geboren 1975 in Buenos Aires, Studium in Deutschland, schrieb für verschiedene Medien in Lateinamerika und die taz. Er lebt heute als Autor und literarischer Übersetzer in Buenos Aires. Sein Roman „Ein Chinese auf dem Fahrrad“ ist jüngst bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

AUS BUENOS AIRES ARIEL MAGNUS

Die WM ist die echte Globalisierung: Für einen Monat scheint die ganze Welt unter denselben klimatischen Bedingungen zu leben. Es ist nämlich das WM-Wetter, worüber alle sprechen, worüber alle Vorhersagen machen, sich beschweren und sich wundern. Sogar die üblichen Globalisierungsgegner – denn wer nicht über Fußball spricht, hat schon Stellung genommen. Um im Abseits zu stehen, muss man auf dem Feld sein.

In Buenos Aires zumindest, wo es jetzt so kalt ist wie in Südafrika, kann man keinen Obstladen besuchen, ohne zusammen mit den Tomaten eine Einführung in die Geschichte der Strategie bei Viertelfinal-Spielen einzukaufen. Für das kommende Spiel gibt es hier so viele ideale Mannschaftsaufstellungen wie Fans, und so viele hoffnungsvolle Fans wie schon lange nicht mehr.

Die enthusiastische Stimmung rührt einerseits von der herausragenden Mannschaft, die Argentinien hat. Andererseits aber auch daher, dass sich jede einzelne Amateur-Ansicht von der offiziellen kaum unterscheidet. Chile und Paraguay haben argentinische Trainer engagiert, Argentinien dagegen einen wunderbaren Weltshowman, der wie ein Fußball-Fan spricht und so auch Entscheidungen trifft. Das gibt jedem Zuschauer das Gefühl, er könnte selbst vor den Mikrofonen sitzen und gelassen sagen: „Ich habe mich für Tévez entschieden, denn seine Spielart bereitet mir Gänsehaut. Er ist der Fußballspieler des Volkes.“ Oder: „Messi soll dort spielen, wo er spielen will.“ Gute Ergebnisse lassen solche Begründungen logisch klingen, sogar wissenschaftlich.

Rot vor Wut müssen im Moment die Fußball-Akademiker sein, die sich von einem Anfänger belehren lassen müssen, dass man eine Mannschaft auch ohne Disziplin und Militarismus aufbauen kann. Dass anscheinend willkürliche, widersprüchliche, manchmal sogar des Aberglaubens verdächtige Maßnahmen sich trotzdem als rational oder zumindest praktisch adäquat erweisen. Dass die vermeintliche Distanz, die der König zu seinen Untertanen bewahren sollte, sich produktiv aufheben lässt.

Dunkelrot vor Wut sind aber vor allem diejenigen Argentinier, die all ihre bürgerlichen und moralischen Vorurteile in der Figur von Maradona bestätigt sehen. Geboren in den elenden Vororten der Hauptstadt und später in alle Sünden dieser Welt eingeweiht: Nur wenige Personen rufen so viel Mittelschicht-Hass hervor wie Diego. In diesem Sinne repräsentiert er sehr treffend ein Land, in welchem auch die Präsidentin zum Objekt des blinden Hasses der aristokratischen Bourgeoisie geworden ist, deren pompöses Auftreten und rhetorische Virtuosität immer wieder Grund zum Meckern gibt und deren wirtschaftliche und politische Treffer dem Zufall zugeschrieben werden.

Aus dieser Perspektive ist dem Bärtigen keiner so weit entfernt wie das coole Aftershave-Werbemodel Löw, das Deutschland zu einem neuen Sommermärchen führen soll. Und trotzdem treffen sich am Samstag zwei in mancher Hinsicht ähnliche Trainer.

Die erste und gleich wichtigste Analogie besteht darin, dass beide ihre jeweiligen Mannschaften um einen Abwesenden herum aufstellen mussten. Im Fall Argentiniens entstand diese Lücke durch Riquelme (Boca Juniors), der aus mysteriösen Gründen („Mit dieser Person“ – gemeint war Diego, dessen Namen er nicht mal aussprechen wollte – „kann ich nicht zusammenarbeiten“) schon früh auf seine Führungsposition verzichtet hat. So hat die Selección ihr Potenzial zur Verlangsamung verloren, dazu Riquelmes unübertroffene Reizbarkeit und seinen unfehlbaren Es-riecht-hier-ja-so-komisch-Gesichtsausdruck.

Ballacks Abwesenheit hat sich als noch positiver erwiesen. Wer zunächst die Argentinier als „mit allen Wassern gewaschene“ Unsportler abstempelt, um im darauf folgenden Freundschafts(!)-Spiel dem Argentinier Demichelis das Gesicht zu zermalmen, den kann ich unmöglich objektiv beurteilen. Dennoch kann ich getrost behaupten, dass er ein ruinöser Gruppenleiter ist, und dass sein Verlust eher ein Gewinn für die Mannschaft war.

Mit den abwesenden Spielern hatten also beide Trainer Glück, wie schon zuvor bei der Auslosung der Gruppen und jüngst bei den Fehlentscheidungen der Schiedsrichter im Achtelfinale. Auch genießen beide den Vorteil, nicht als Titelkandidaten in das Turnier gestartet zu sein und zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Spitzenspieler zur Verfügung zu haben.

Es gibt jedoch einen ganz markanten Unterschied zwischen am dem zweitbesten gekleideten und dem am zweitschlechtesten gekleideten Trainer (am besten angezogenen war Domenech, am schlechtesten unübersehbar Dunga, wer strickt ihm eigentlich diese Pullover?): der Unterschied heißt Messi. Kein Spieler dieser WM ist mit ihm vergleichbar.

Das übliche Klischee, dieser Spieler käme aus einer anderen Welt, trifft im Falle von „la pulga“ (der Floh) tatsächlich zu. Sowohl auf dem Spielfeld, wo nicht er den Jabulani, sondern der Jabulani ihn zu suchen scheint, als auch außerhalb, verhält er sich tatsächlich wie ein Außerirdischer. Messi ist weder angeberisch noch ruhmsüchtig, er hat weder ein Model als Freundin noch den Drang, im Rampenlicht zu stehen. Er beherrscht seine Muttersprache nur begrenzt und scheint nur eins auf dieser Erde zu wollen: ununterbrochen mit dem Ball zu spielen. Als kommuniziere er mit weit entfernten Wesen. Messi ball home.

Er und nur er kann und wird das Spiel am Samstag entscheiden. Macht er nun endlich alle Tore, die bis jetzt an den Pfosten gingen oder von unglaublich inspirierten Torhütern verhindert wurden, dann hat Deutschland keine Chance. Und das wäre auch gut so. Nicht nur wegen der Symmetrie zwischen beiden Ländern (1986-Finale für uns, darauf folgende für euch; 2006-Viertelfinale für euch...), sondern wegen der globalen Gerechtigkeit: so wie das letzte Mal die Weltmeisterschaft am Ende zur Europameisterschaft wurde, so könnte sie sich diesmal zur Copa América entwickeln, mit einem Traumfinale zwischen Argentinien und Brasilien.

Es wäre nur allzu gerecht, wenn gerade die südamerikanischen Mannschaften, deren Spieler fast alle in Europa spielen, unter sich die WM entscheiden. Es sind außerdem Länder, die in den letzten Jahren einen Linksruck erlebt haben – oder zumindest, was man hier so links nennen darf. Ein politischer Klimawandel, den man gerne auch globalisiert sehen würde.