„Das E-Book kannibalisiert nicht“

DRUCK Elisabeth Ruge ist eine der einflussreichsten Verlegerinnen Deutschlands. Warum sie an kleine Verlage glaubt

■ Die Frau: Elisabeth Ruge wurde 1960 in Köln geboren. Die ersten zehn Jahre lebte sie in den USA, wo ihr Vater Gerd Ruge als ARD-Korrespondent arbeitete. 1970 kehrte die Familie nach Deutschland zurück.

■ Die Karriere: Nach ihrer Lehre als Verlagsbuchhändlerin beim Claassen-Verlag, arbeitete Ruge als Lektoratsassistentin beim S. Fischer Verlag. Parallel dazu studierte sie Anglistik, Amerikanistik und Slawistik an der Goethe-Universität in Frankfurt. 1994 gründete sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Arnulf Conradi und Veit Heinichen den Berlin Verlag. Seit 2012 leitet Ruge Hanser Berlin, die Hauptstadt-Dependance des Münchner Verlagshauses Carl Hanser.

INTERVIEW SONJA VOGEL

sonntaz: Frau Ruge, es gibt immer mehr Möglichkeiten, Texte und mit wenig Aufwand über Facebook, Twitter oder Blogs zu verbreiten. Fühlen Sie sich als Verlegerin gedruckter Bücher schon als Dinosaurierin?

Elisabeth Ruge: Ganz eindeutig nicht. Es gibt diese Möglichkeiten, und es stimmt, sie schaffen eine neue Situation, weil sie eine größere Auswahl eröffnen und damit auch die Verlage unter Druck setzen, aus der Routine herauszukommen und ihren Autoren deutlicher zu zeigen, was der Vorteil eines Verlags ist. Auf der Buchmesse erzählte mir eine Literaturagentin aus London übrigens, dass sie gerade einen Autor mit seinem Werk akquiriert habe, der bereits drei Krimis sehr erfolgreich im Eigenverlag im Netz veröffentlicht hatte. Trotzdem hatte er beschlossen, sich mit seinem vierten Buch einem Verlag anzuvertrauen. Selfpublishing ist auf Dauer eine ziemlich einsame Angelegenheit.

Anfang 2012 haben Sie Hanser Berlin unter dem Dach der Münchner Verlagsgruppe Hanser eröffnet. Ganz entgegen dem Trend zur Zentralisierung im deutschen Verlagswesen ist Ihr Verlagshaus verhältnismäßig klein. Ist Dezentralisierung eine Reaktion auf einen Markt, der sich rasant verändert?

Richtig, Hanser Berlin ist vom Programm her eher übersichtlich. Aber auch wir sind Teil einer zentralisierten Struktur, das erscheint mir heutzutage geradezu essenziell: Unser Vertrieb, die Rechte- und Lizenzabteilung, die gesamte Finanzlogistik befinden sich in München, über das Programm wird in Berlin entschieden. Ich würde sagen, das ist der Königsweg: in der Programmgestaltung etwas Eigenes zu machen, zugleich aber effektiv in den Markt hineinzuwirken, an einer gemeinsamen Struktur zu partizipieren.

Die zweite Veröffentlichung von Hanser Berlin, Jonathan Littells Syrien-Reportage „Notizen aus Homs“, kam als E-Book heraus und erst danach als gedrucktes Buch. Eine Reihenfolge, für die sich Verlage bisher selten entscheiden. Hat sich das ausgezahlt?

Es hat die Vermutung bestätigt, dass das E-Book das gedruckte Buch nicht kannibalisiert. Wir hatten keine Verluste. Im Gegenteil. Auch der US-amerikanische Markt beweist, dass das gebundene und das digitale Buch sehr gut nebeneinander bestehen können. Im Fall von Littell gab zudem die politische Aktualität den Ausschlag. Wir wollten nicht lange warten, um dieses wichtige Buch erst gedruckt in die Buchhandlungen zu bringen.

Trotzdem steht die Buchbranche in Deutschland der Digitalisierung skeptisch gegenüber. Warum?

Das frage ich mich auch, denn ich sehe da wirklich große Chancen. Für uns in Deutschland ist es viel wesentlicher, an der Buchpreisbindung festzuhalten. Ich muss wirklich sagen: In dem Moment, wo sie fällt, habe ich keine Lust mehr, mich verlegerisch zu betätigen. Der selbstständige Buchhandel würde vollständig einbrechen. Das haben wir schon in einigen Ländern beobachten können. Die Franzosen waren so klug, die Buchpreisbindung wieder einzuführen. Die Engländer haben das nicht gemacht. Heute gibt es kaum noch unabhängige Buchhandlungen in London. Sie hätten dort ein großes Publikum, aber es gibt sie einfach nicht mehr.

Im Berlin Verlag, den Sie 1994 mitgründeten, haben Sie mit „Berlin Academic“ ein neues Geschäftsmodell ausgelotet, das auf freiem Zugang basiert und auf den liberaleren Urheberrechtslizenzen von Creative-Commons. Hat sich das als „naiv“ erwiesen, wie Sie einmal befürchtet haben?

Nein. Es ging darum, basierend auf dem Open-Access-Prinzip über Geschäftsmodelle nachzudenken, in denen nicht allein der traditionelle „Content“ im Zentrum steht. Das ist ohne Frage ein wichtiges Thema – Zeitungsverlage wissen schon jetzt davon zu berichten. Und Wissenschaftsverlage entwickeln ja bereits Open-Access-Geschäftsmodelle. Auf der Seite der Nutzer gibt es ein Verständnis, nach dem man im Netz vieles umsonst findet. Darauf kann man unterschiedlich reagieren.

Wie denn?

Ganz falsch ist es sicherlich, all diese Menschen, die im Netz Inhalte unentgeltlich konsumieren, zu kriminalisieren. Man muss ein neues Bewusstsein schaffen für Urheberrecht und Copyright – dafür braucht es vermutlich in der Zukunft auch auf der Seite der Verlage neue Modelle. Ein solcher Versuch, im Netz ein praktikables Copyrightsystem einzuführen, stellt ja Creative Commons dar. Und in Harvard beschäftigt sich ein ganzes Institut damit, alle dort generierten Forschungsergebnisse frei zugänglich zu publizieren.

In Ländern wie Russland ist Bücher-Piraterie ein Problem, aber in Deutschland ist sie kaum relevant.

In Russland gibt es kein vernünftiges Verlagswesen. Dort scheitern ambitionierte Verlage allein schon daran, dass sie nicht regelmäßig Papier einkaufen können. Andererseits sind in postsozialistischen Ländern interessante verlegerische Modelle entstanden. Auf einer Konferenz in Berlin hat ein bulgarischer Verleger ein Open-Access-Modell mit naturwissenschaftlichen Inhalten vorgestellt. Es war faszinierend – und ist natürlich aus der Not geboren. Für diese Länder ist das Digitale eine Chance, zuverlässig in den Markt hineinzuarbeiten, überhaupt erst mal die Leser geordnet versorgen zu können.

Wie könnte also angesichts der derzeitigen Lage der nächste Schritt der Verlage aussehen?

Wir müssen erfinderisch werden und unsere Produkte tatsächlich digital anbieten. Es gibt viele Dinge, die noch brachliegen. Aber das, was wir anbieten, müssen wir auf spannende Weise ins Netz bringen und nicht einfach das Gedruckte noch einmal digital „raushauen“.

Digitale Bücher ermöglichen ein flexibles Lesen: unchronologisch, ausschnittweise, nach Stichworten. Kann die klassische Form des gedruckten Buchs das überleben?

In jedem Fall. Das gedruckte Buch ist einfach bestechend. Es hat sich über Jahrhunderte gehalten. Es gibt eine große Anhänglichkeit gegenüber dem Gedruckten, selbst bei Leuten, die digital sehr aufgeschlossen sind – auch bei mir. Obwohl ich ein iPad und ein Kindle besitze, lese ich nach wie vor um die 70 Prozent auf Papier. Das wird sich so bald auch nicht ändern.

Ich stelle mir einen Buchladen im Jahr 2025 vor: wenige Bücher und viele Computer. Ich kaufe aus einem Erzählungsband zwei Geschichten, aus einem Fachbuch ein Kapitel und lasse mir das vor Ort von einer Print-on-Demand-Druckmaschine drucken. Ist das die Zukunft?

In zwölf Jahren? Nein, das sehe ich noch nicht. Da sehe ich immer noch Dussmann oder, sagen wir, die Georg-Büchner-Buchhandlung.

Wie überleben die?

Leute haben einfach das Bedürfnis, Dinge gemeinsam zu erleben, auch im Bereich der Literatur. Das große Plus einer Buchhandlung ist die Beratung. Ein Grund, warum die Kette Waterstones in London so kläglich dasteht, ist, dass sie dramatisch Verkaufspersonal abgebaut hat. Aber allein in Berlin wurden in den letzten Jahren unzählige kleine Buchhandlungen gegründet, die nicht am Hungertuch nagen: überschaubare, gut ausgestattete Buchhandlungen, deren Sortiment eindeutig mit der Persönlichkeit des Buchhändlers zusammenhängt und einem sozialen Netzwerk.

Trotzdem sind Megakonzerne wie Google oder Amazon erfolgreich, in den USA schließen sie sogar Verträge mit Autoren ab. Hätten Sie erwartet, dass die Konkurrenz ausgerechnet von dieser Seite kommt?

Nein. Die sind ja erst in den letzten Jahren auf die Bühne gesprintet! Andererseits weiß man doch, dass es da draußen Autoren gibt, die vergebens nach Verlagen suchen und sich nach Alternativen umschauen. Denken Sie allein an die Menschen, die etwa die Erinnerungen ihrer Großmutter drucken wollen – das ist ja auch eine Art Selfpublishing. Es gibt also Kundschaft genug. Viele Autoren sind dann aber enttäuscht von der Art, wie ihr Produkt präsentiert wird. Wenn sie einen Akzent setzen wollen, sei es bei der Ausstattung oder der Typografie, etwas, das nicht dem strikten Standard folgt, dann wird es teuer. Was da als Selfpublishing von Amazon und Co. angeboten wird, folgt rigorosen Regeln. Literarische Verlage können ein Buch individuell gestalten – und machen sich das zu ihrer eigensten Aufgabe.

Frau Ruge, was bedeutet Ihnen persönlich das Lesen?

Lesen ist schon immer ein sehr wichtiger Teil meines Lebens gewesen, etwas, womit ich viel Zeit verbracht habe. Als Kind war Lesen für mich wichtig aufgrund einer schwierigen Familiensituation, aber auch weil wir früh nach Amerika gezogen sind. Da habe ich mich manchmal als am Rande stehend empfunden – das ist aber eine Erfahrung, die ich vermutlich mit vielen Menschen teile. Durchs Lesen erschafft man sich eine Welt, eine ganz eigene, die einen aber doch mit den anderen verbindet.