Stille Macht

HANDEL Von den vier großen Internetunternehmen ist Amazon das unscheinbarste – und das unumstrittenste. Schließlich ist der Konzern gut zu seinen Kunden. Billige Produkte, bester Service. Das aber hat seinen Preis

■ Der Chef: 1987 machte Jeff Bezos seinen Abschluss an der Elite-Universität Princeton und begann im Jahr danach Software für eine Investmentbank zu programmieren. Nachdem er für andere Banken gearbeitet hatte, gründete er 1994 die Online-Buchhandlung Amazon. Die ersten Bücher verpackten die Angestellten in den Büroräumen in Seattle selbst.

■ Die Firma: Amazon ist längst nicht mehr nur ein Buchhändler, sondern verkauft vom Abführmittel bis zur Zahnbürste alles, was man sich vorstellen kann. Noch stärker als Google oder Facebook setzt das Unternehmen auf andere Felder wie etwa das Cloud Computing, indem es Firmen flexiblen Speicherplatz in seinen Serverfarmen vermietet. Amazon ist außerdem ein Marktplatz wie eBay.

■ Der Kläger: Der Dürener Online-Unternehmer Ryan Hood, der selbst einen Marktplatz namens hood.de betreibt, hat den Konzern verklagt, weil Amazon Händlern strenge Preisvorgaben macht. Auch das Kartellamt ermittelt.

VON MEIKE LAAFF
UND JOHANNES GERNERT

Ryan Hood hat eine Weile überlegt, ob er es sich leisten kann, sich mit Amazon anzulegen. Er ließ es seinen Justitiar durchrechnen. Dann reichte er Klage gegen den größten Handelskonzern im Internet ein, am Landgericht Köln. Das war Mitte Oktober. Seitdem wartet er, was passieren wird.

Ryan Hood ist 36 Jahre alt und betreibt von Düren aus einen Online-Marktplatz. Er hat ihn Ende der Neunziger aufgebaut, statt BWL zu studieren, und wollte damit anders sein als eBay oder Amazon. Er hat seine Seite hood.de genannt, was ein wenig nach Robin Hood klingen sollte. Die Gebühren sollten bei ihm niedriger sein und die Händler mehr Rechte haben als bei den großen Konkurrenten.

Es läuft, die Firma wächst. Nur weiß Hood nicht mehr, wie lange noch, seit Amazon die Online-Verkäufer zu den niedrigen Preisen zwingt.

Man kann bei Amazon Bücher, DVDs und Duschgel bestellen. Von Amazon selbst – und von kleinen Online-Händlern, die ihre Produkte auf amazon.de anbieten. Kunden fällt der Unterschied kaum auf.

Seit 2010 verlangt Amazon, dass die Händler per Vertrag versprechen, dass sie ihre Sachen bei Amazon so günstig verkaufen wie nirgends sonst im Internet. Seit diesem Herbst setzt Amazon diese Klauseln durch, indem es Händler abmahnt, die anderswo billiger sind, bei hood.de etwa, bei einem der anderen kleinen Marktplätze oder bei eBay. Es haben sich einige bei Hood gemeldet und gesagt, dass sie bei ihm wohl nicht mehr anbieten können. Er verlange zwar niedrigere Gebühren, für die Standardkonten gar keine. Aber trotz der hohen Amazon-Gebühren würden sie dort mehr verdienen, weil sie mehr verkaufen.

Amazon, der größte Online-Händler, ist, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen, auch zum größten Online-Marktplatz in Deutschland geworden, größer noch als eBay. Jetzt scheint es seine Marktmacht gegen die kleinen Händler ausspielen zu wollen, indem es sie zu den niedrigen Preisen zwingt. Ryan Hood will das verhindern. Auch das Bundeskartellamt ermittelt, sagt ein Sprecher, „vor dem Hintergrund vieler Beschwerden“.

Im Juli wird Nika Lubitsch geboren, mit „Strandglut“

Ryan Hood ist ein langer, schmaler Mann, Schuhgröße 48, der nicht nur seine Nike-Sneakers im Internet bestellt. Hood ist so, wie viele Deutsche bald noch werden könnten. Er kauft eigentlich fast alles im Netz, sagt er. Nur Zahnpasta oder Nudeln noch nicht.

Vielleicht ist ihm die Sache mit Amazon deshalb so wichtig. Es geht um die Zukunft, nicht nur um die seiner Firma.

Amazon ist der wichtigste Online-Händler der Welt und will die Einzelhändler in ihren Supermärkten und Einkaufszentren jetzt noch weiter zurückdrängen, indem es Bücher oder Toaster schon an dem Tag liefert, an dem man sie bestellt. Amazon ist ein zentraler Player auf dem Buchmarkt und will die Verlage weiter schwächen, indem es selbst zum Verlag wird. Amazon bietet den größten Marktplatz für Online-Händler und will andere Plattformen nicht weiter wachsen lassen, indem es seinen Händlern dieses Preisdiktat aufzwingt.

„Amazon nutzt da klar seine Macht aus“, sagt Ryan Hood.

Er sieht den Einfluss in den gelben Kastenwagen der Paketboten wachsen, wenn sie bei ihm auf den Hof fahren. Fast alle Päckchen: Amazon.

Vor einem Jahr hat Nika Lubitsch Amazons graues Lesegerät namens Kindle zu Weihnachten geschenkt bekommen. Sie las Anleitungen, wie man bei Amazons Plattform KDP eBooks publiziert. Kindle Direct Publishing. Amazon ist längst auch ein Verlag, der selbst Bücher herausbringt.

Nika Lubitsch gibt es erst seit dem 15. Juli 2012. Es ist ein Pseudonym, das die Autorin, die in Berlin-Zehlendorf wohnt, verwendet, weil sie nicht nur Krimis schreibt, sondern auch Sachbücher. Die allerdings unter ihrem richtigen Namen.

Lubitsch hat sich von den etablierten Verlagen lange missachtet gefühlt. Sie schickte Manuskripte, die oft abgelehnt wurden, ohne dass sie jemand wirklich gelesen zu haben schien.

Im Sommer sah sie einen Spot im Fernsehen, in dem eine junge Frau in Shorts und mit Kindle zum Strand lief. „Hey, jetzt kaufen alle Leute Kindles für den Urlaub, da kann ich ja mal ein bisschen locker leichte Urlaubsunterhaltung beisteuern“, habe sie da gedacht – und verwandelte für Amazon einige ihrer alten Übungskurzgeschichten in ein eBook. Es heißt „Strandglut“. Sie bot es zunächst kostenlos an, kam so in die Charts der Gratis-Bücher und verlangte anschließend Geld. Mit „Der 7. Tag“, einem abgelehnten Manuskript, machte sie es ähnlich – und landete auf Platz 1 der Gratis-Hitliste. Jetzt kostet der Krimi 2,98 Euro. 70 Prozent gehen an sie, 30 Prozent an Amazon.

Inzwischen ist der Titel ins Englische übersetzt worden, es gibt Anfragen aus 11 Ländern. Der Name Nika Lubitsch ist in einer Erfolgspressemeldung von Amazon gelandet.

„Disruptive“, sagt man in den USA. Durchschlagend

Lubitsch nennt sich und die anderen eBook-Autoren, die auf Amazon publizieren, „Indies“. Sie glaubt, dass sie als Indies neue Leserschichten ansprechen. Das alles sei sehr basisdemokratisch. „Beim System Amazon entscheidet der Leser, was verlegt wird.“

Etwa 40.000 Euro hat ihr Kollege Jonas Winner mit seinen „Berlin-Gothic“-Romanen verdient. Er betrachtet das mit der Macht der vielen (➤ SEITE 32) ganz ähnlich.

Buchhandelsketten wie Hugendubel oder Thalia bringt Amazon länger schon in Bedrängnis. Wer geht in den Laden, wenn er zu Hause einfach nur auf die Maustaste drücken muss? Platz, sagt man in der Branche, sei im Amazon-Zeitalter eher für kleine Buchhandlungen mit den persönlichen Empfehlungen.

Jetzt verlegt Amazon Bücher auch selbst – und bringt sein Verlagsgeschäft nach Europa.

Das Kindle wirkt auf den Buchmarkt schon wie der iPod auf die Musikbranche. „Disruptive“, sagt man im Silicon Valley in Kalifornien, wo Apple, Google und Facebook sitzen. Durchschlagend.

Es gibt vier große Konzerne, die um die Macht im Netz ringen. Google ist die Suchmaschine, die die Werbung im Internet verteilt. Facebook ist das soziale Netzwerk, das seine Kontaktsammlung in Geld verwandeln muss. Apple ist der iPhone-Hersteller, der die Gesundheit chinesischer Arbeiterinnen gefährdet. Und Amazon?

Was ist das für ein Konzern, der in mancher Hinsicht viel mehr über uns weiß als Google und Facebook und manche Branchen mindestens so sehr durcheinanderrüttelt wie Apple?

Es ist nicht leicht, sich dem Wesen von Amazon zu nähern. Amazon ist der Online-Buchhändler. So haben wir das Unternehmen aus Seattle vor vierzehn Jahren kennengelernt, so nutzen wir es, so nennen wir es. Aber das ist nur ein Bruchteil der Realität. Amazon ist vielschichtig – und still.

Es ist kein Zufall, dass Amazon der unscheinbarste der vier großen Internetkonzerne ist. Es ist eine Unternehmensstrategie.

Jeff Bezos, der unauffällige Mann mit der Glatze, der die Firma 1994 gründete und bis heute leitet, hat von Anfang an ein klares Ziel verfolgt: Bei Amazon soll es in erster Linie um den Kunden gehen. Möglichst niedrige Preise, bester Service. Es bedeutet aber auch: Kunden sollen so wenig wie möglich mit Amazon zu tun haben.

Man klickt etwas an, man erhält die Bestätigung per E-Mail, man macht dem Postboten auf. Mehr nicht.

Jeder zusätzliche Kontakt ist ein Problem, weil es dann in der Regel um ein Problem geht. Etwas hat nicht funktioniert.

Amazon expandiert und verdrängt, sucht ständig nach neuen Märkten, nach Nischen, stärker noch als Google oder Facebook. Aber es fällt weniger auf. Still und konzentriert sitzen die Mitarbeiter vor Jeff Bezos, wenn sie für ihn ein Konzept geschrieben haben, und alle lesen, minutenlang. Still und konzentriert arbeitet sich Amazon voran. Still und konzentriert hat der Konzern das Gefühl geschaffen, dass zwischen der Anbieterin und der Kundin kein Mittler nötig ist. Keiner außer Amazon. Aber Amazon fällt eben nicht auf, es ist ja nur eine Webseite. Alltäglich wie ein Supermarkt.

Bill Price war Ende der Neunziger für den Kundenservice zuständig, ein unauffälliger Mann mit Schnurrbart und Brille. Eines Tages bekam er eine Mail von Bezos, dem Chef: Er wolle jeden Tag die eine, interessanteste Begebenheit aus dem Kundenservice erfahren. Sie waren eine Firma, die ihre Kunden nie trifft, es gab ja keinen Laden, umso genauer, dachte Bezos, müsse er sie kennen. „Okay, Leute“, sagte Price zu seinem Team. „Jeff hätte gern Folgendes …“

Price schuf ein System, das die Nachrichten aus dem Kundenservice an die Manager im Haus verteilte. Man konnte sie nach Stichworten abonnieren. „Damals gingen diese Mails an hundert Manager, heute müssen es tausend sein“, sagt Price, der seit 2001 als Berater arbeitet. „Man kann sich alle Nachrichten über den Paketdienst DHL schicken lassen. Oder alle Nachrichten, die DHL positiv erwähnen. Die Manager liebten es.“

Der Schlüssel zu diesem Erfolg lag in den Daten. Amazon sammelte alles, was es kriegen konnte. „Das hat Amazon ausgezeichnet: Es wird nichts weggeworfen. Man muss sich da durchwühlen. Dann wird man schon etwas Wertvolles finden“, sagt sich Price. „Die Aufenthaltszeit etwa: Amazon wusste von Anfang an die Aufenthaltszeit jedes Kunden auf jeder einzelnen Seite.“ Price spricht von „Datendurst“.

Es kann vorkommen, dass ein Nutzer der Amazon-Online-Videothek in den USA sich gar nicht groß darüber ärgert, dass der Video-Player öfter abstürzt, und anschließend dennoch eine Mail von Amazon erhält: Man entschuldige sich für die Unannehmlichkeiten, die Leihgebühr werde selbstverständlich zurückerstattet. Ohne dass sich jemand beschwert hätte. Amazon hat es gemerkt.

Wenn vor einigen Jahren über Datenschutz diskutiert wurde, ging es meist um Google. Wenn heute über Datenschutz diskutiert wird, geht es meist um Facebook. Google weiß, was wir suchen. Facebook, wen wir Freundin nennen, was uns gefällt.

Amazon weiß, was wir kaufen, wann wir unser eBook weglegen, welche Stellen wir darin markieren, wann der Video-Player ruckelt. Warum redet niemand über Amazon?

Es sei ganz einfach, sagt Price. „Amazon hatte all das schon vor Google und Facebook.“ Die Datenschutzdiskussion wirkt irgendwie abgeschlossen. Sehr 2001 das alles.

Das Motto bleibe aber bis heute: „Sammle alle Daten, die du kriegen kannst, und finde anschließend heraus, was sie dir erzählen.“

Andreas Weigend war einige Jahre Chefwissenschaftler Amazons, mittlerweile lehrt er an der Universität Stanford. 500 Kriterien zu jedem Kunden rechnete er einmal aus: „Wie weit ist es von Ihnen bis zum nächsten Buchladen? Wie weit zum nächsten Supermarkt? Welche Karte verwenden Sie zum Bezahlen, machen Sie es mit Banküberweisung? Was haben Sie als Erstes bestellt, ein Buch, ein Sex Toy? Das waren alles Felder, die Eigenschaften des Kunden zu beschreiben versuchten.“

Als Chefwissenschaftler ließ er ständig sogenannte A/B-Tests laufen. Für bestimmte Kundinnen wurde die Seite verändert, und man beobachtete, was es brachte. Als in Frankreich einmal aus Versehen alle Produkte ohne Versandkosten angeboten wurden und die Zahl der Bestellungen explodierte, führte man weitgehende Versandkostenfreiheit einfach überall ein.

Ende November änderte sich der Preis eines Computerspiels bei Amazon in sieben Tagen sieben Mal. Er fiel dabei zwischenzeitlich um mehr als 30 Dollar. Amazon sammelt automatisch Daten von Wettbewerbern – Preise etwa – und unterbietet sie.

Andreas Weigend hat als Chefwissenschaftler mit dem Amazon-Chef Jeff Bezos gearbeitet, er hat viel über ihn nachgedacht. „Er ist jemand, dem Daten und Produkte viel wichtiger sind als Individuen“, sagt er.

Ryan Hood, der nun gegen Amazon klagt, sitzt in einem Starbucks-Café in Köln – mag er eigentlich nicht, große Kette – und sagt, dass sie bei hood.de keine Nutzerprofile erstellen, weil sie wissen, was damit möglich wird. Man könne dann doch mit Werbung übers ganze Internet verfolgt werden. Seine Firma ist nicht besonders groß, 16 Mitarbeiter im Gewerbegebiet von Düren. Er ist jemand, der Türen aufhält, ein glatt rasierter, höflicher Mensch, der sagt, dass er Jeff Bezos, den Amazon-Gründer, für seinen Erfolg respektiert. Aber große Macht bringe eben auch große Verantwortung.

Amazon wird Aldi so immer ähnlicher

Es ist schwer zu beziffern, wie groß die Marktmacht von Amazon in Sachen Handel in Deutschland ist. Der Konzern gibt keine Zahlen heraus. Einer Schätzung des Kölner EHI Retail Institutes hat sich der Umsatz in den vergangenen drei Jahren verdoppelt.

Auf den ersten Blick ist Amazons Angebot nur ein großartiger Service: Auf Amazon gibt es alles, man kann mit wenigen Klicks bestellen. Wenn einem das Weihnachtsgeschenk nicht gefällt, schickt man es einfach zurück. Amazon ist da sehr kulant.

Einer wie Ryan Hood durchsucht zwar lieber Preissuchmaschinen nach den besten Angeboten. Aber will man wirklich jedes Mal irgendwelche Händlerseiten durchforsten, wenn man mal ein neues Druckerkabel braucht?

Und wenn etwas nicht funktioniert? Man kennt viele Händler doch gar nicht. Mit Amazon dagegen haben die meisten schon gute Erfahrungen gemacht.

Manche Monopole erwachsen auch aus der Bequemlichkeit der Kunden. Suchen bei Google, Freunde bei Facebook, Einkaufen bei Amazon. Alles schön einfach. Macht doch jeder.

Durch die Marktmacht allerdings, sagen Beobachter, werde Amazon Aldi immer ähnlicher. Es drückt die Preise der Hersteller. Manchmal verkauft es unter dem Verkaufspreis der Einzelhändler. Ohne Druck scheint das kaum möglich.

Man kriegt einen ganz guten Eindruck davon, was Amazon leistet, wenn man ein paar Minuten der orangefarbenen Warnweste von Norbert Brandau hinterherläuft. Man sollte vielleicht besser sagen: hinterherhetzt.

Brandau, 44 Jahre alt, runder Bauch, runde Glatze, eckige Brille, leitet Amazons Logistikzentrum im bayerischen Graben. Es gibt acht davon in ganz Deutschland. Die Zahl wächst. Graben ist eines der neuesten. Es fehlt eigentlich nur noch ein Zentrum in Nordwestdeutschland, dann könnte Amazon überall in Deutschland schon am Abend liefern, was jemand am Morgen bestellt hat. Das Ende des Einzelhandels, prophezeien manche.

Norbert Brandau hat Chemie studiert, geheiratet, zwei Kinder bekommen. Er ist seit zehn Jahren bei Amazon, im ersten Zentrum in Bad Hersfeld hat er einmal im Warenausgang angefangen. Dann Wareneingang, Bereichsleiter, immer so weiter.

Jetzt schreitet er die Hallen ab, vorbei an Regalen, Kartonstapeln, gelben Boxen, grauen Wagen. Die Menschen, die hier auspacken, einräumen, einsammeln, auspacken, tragen orangefarbene Westen wie Brandau.

Im Lager quietscht und fiept es ein wenig

Das Lager wirkt wie ein riesiger Supermarkt ohne Musik, in dem einfach alles irgendwo in einem Regal rumliegt. Elektrische Zahnbürste, Bohrer, Topfset, Mikroskop, Telefon. Das zentrale Steuerungssystem weiß, wo noch Platz ist, wo jeder einzelne Artikel lagert, man muss sie nicht nach Kategorien ordnen, Bücher hier, Töpfe da. Wenn irgendwo in Deutschland jemand Streu für seinen Kaninchenkäfig bestellt, sieht einer der Amazon-Mitarbeiter das auf seinem Gerät und packt es in eine Kiste, die über ein Band zu einer Verteilstation fährt und von dort weiter dorthin, wo sie in ein Paket gepackt wird. 1.000 Festangestellte arbeiten hier, um Weihnachten kommen bis zu 2.000 Aushilfen dazu, Tag und Nacht, 24 Stunden.

Es quietscht und fiept und rauscht ein wenig, aber im Grunde ist es recht ruhig in der riesigen Halle. Im September hat Norbert Brandau einen Tag der offenen Tür veranstaltet, für Angehörige von Mitarbeitern. 700, 800 Leute hätten sie durchgeschleust, sagt Brandau. In Gruppen von zwanzig, 9 bis 18 Uhr. Die Leute seien erstaunt gewesen, sagt Brandau. Man kennt ja sonst nur die Homepage.

„Ich möchte nicht nur als der graue Kasten dastehen“, erklärt Brandau, der sehr konzentriert wirkt, man könnte auch sagen: ein wenig mürrisch. Er wollte Amazon öffnen, die Tore der grauen Halle da draußen im Industriegebiet, von der man sonst nur sieht, dass Laster in ihren Seiten zu stecken scheinen, von DHL etwa, dem Paketdienst. Sehr gezielt, sehr kontrolliert alles. Wie immer, wenn Amazon einen Einblick gewährt, kurz.

Mag sein, dass man das auch ein bisschen als eine Reaktion verstehen kann auf die Berichte in der Lokalzeitung über Mitarbeiter, die im Lager umgekippt seien vor Erschöpfung, dehydriert. Berichte über die strenge Überwachung mit Security-Schranken wie an einem Flughafen, am Eingang. Berichte über Löhne unter Tarif. Es soll jetzt ein Betriebsrat gewählt werden.

Er habe mit Betriebsräten immer gut zusammengearbeitet, sagt Brandau. Und bei so einem Lager müsse man eben aufpassen, dass nichts geklaut wird. Das würden alle so machen.

Zwischen den Regalen hängen manchmal Schilder: „Bitte achten Sie bei erhöhten Temperaturen darauf, Flüssigkeiten zu sich zu nehmen.“ Die meisten Menschen in den orangefarbenen Westen wirken konzentriert, nicht unbedingt getrieben.

Es ist Pressetag, morgens Fernsehen, nachmittags Zeitungen. Thema: Weihnachten. Nur Weihnachten. Das hat die Pressefrau vorher mehrfach betont. Und: keine Zahlen.

Kann Brandau ungefähr sagen, wie viel hier umgeschlagen wird. Pro Tag, Woche, Monat? Irgendeine Zahl? Da sei nun die Pressefrau zuständig, sagt er, und sieht sie an. Und die Pressefrau sagt so etwas wie: Ja, ja. Also: nein. Keine Zahlen.

Es gibt eine Zahl, die Amazon jedes Jahr herausgibt. Die Zahl über den Tag mit den meisten Bestellungen. Er liegt meist um Weihnachten. Es ist die Amazon-Zahl für Deutschland. Mehr gibt es nicht.

Es ist eine Zahl, die vor allem nach viel klingen soll. Nach immer mehr.

Ryan Hood wartet in Düren, was aus seiner Klage wird. Sollte der Prozess vor dem Landgericht Köln beginnen, könnte das Transparenz bringen. „Wir hoffen, dass die Markstellung Amazons dann klarer wird“, sagt er.

Es kann gut sein, dass Amazon mehr als eine Zahl präsentieren muss.

Meike Laaff, 32, leitet das Ressort taz2/Medien

Johannes Gernert, 32, ist Redakteur der sonntaz