Das Ende der Angst

VIRUS Wolfgang Kohl erlebte Aids als Epidemie, die ihm seine Freunde nahm. Für Marco Erling ist HIV eine gut behandelbare Krankheit. Positive, die Tabletten nehmen, können selbst ohne Kondom niemanden mehr anstecken. Muss man da Aids noch fürchten?

■ Das Treffen: An diesem Sonntag, dem 20. Juli, beginnt im australischen Melbourne die Welt-Aids-Konferenz, die die Internationale Aids-Gesellschaft alle zwei Jahre organisiert. Bis zum kommenden Freitag treffen sich dort knapp 18.000 Wissenschaftlerinnen, Präventionisten und HIV-Aktivisten aus allen betroffenen sozialen Gruppen. Die Konferenz steht unter dem Motto „Stepping up the pace“, übersetzt: „Das Schritttempo erhöhen“.

■ Die Geschichte: Die erste Welt-Aids-Konferenz war 1985 in Atlanta, danach fand das Treffen jährlich, ab Mitte der Neunziger alle zwei Jahre statt. In den Achtzigern stand die Erforschung von HIV und Aids im Vordergrund, in den Neunzigern kamen Möglichkeiten der Therapie hinzu. Ein Schwerpunkt war auch immer der politische und soziale Umgang mit der Krankheit. Erst einmal fand die Konferenz in Afrika statt: im Jahr 2000 in Durban, Südafrika.

VON JÖRG SCHMID
UND LUISE STROTHMANN

Im Sommer 1982 blättert Wolfgang Kohl auf die Seite 187 des Magazins Der Spiegel. Dort sieht er ein Foto zweier Männer mit Sonnenbrillen. Einer hat ein Band um die Stirn gebunden und lehnt sich gegen die Brust des anderen. Darunter steht: „Homosexuelle in den USA: Abwehrschwäche durch Hasch?“ Im Text daneben mutmaßt ein Forscher, das Marihuana, das viele Schwule rauchten, würde ihr Immunsystem angreifen. Vielleicht auch Cortisonsalben, die Männer mit wechselnden Partnern benutzten, um verletzte Schleimhäute schneller heilen zu lassen.

Der Text handelt von einer rätselhaften Krankheit, von der offenbar vor allem Amerikas Homosexuelle betroffen sind. Männer zwischen 25 und 30 würden mit bräunlich-blauen Flecken auf der Haut in die Krankenhäuser eingeliefert. Viele sterben.

Wolfgang Kohl ist 21 Jahre alt, als der Artikel erscheint. Er hat das Heft von einem schwulen Freund in Freiburg zugesteckt bekommen. Wenn es sich unter Männern verbreitet, muss es etwas mit Sex zu tun haben, überlegt Kohl. Angst hat er keine. Die USA sind weit weg. Er weiß noch nicht, wie schnell das, was ein Professor in dem Text „Lustseuche“ nennt, näher kommen wird.

Thorsten Winkler ist 13 Jahre alt, als der Artikel erscheint. Er besuchte eine Polytechnische Oberschule in einem Ort in Brandenburg, der damaligen DDR. Den Spiegel gibt es dort nicht und Politiker werden noch Jahre später behaupten, dass es die geheimnisvolle Krankheit aus dem Westen ebenfalls nicht gibt.

Marco Erling ist gerade ein Jahr alt, als der Artikel erscheint. Er wächst in einer Familie auf, in der offen über Sex gesprochen wird. Vielleicht nehmen sich seine Eltern damals schon vor, ihrem Sohn eines Tages unverkrampft aufzuklären.

Fast dreißig Jahre später, im Sommer 2011, erscheint in einem US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin eine Studie mit dem Titel „Prävention von HIV-1-Infektionen mit antiretroviraler Frühtherapie“. Sie wird als wissenschaftlicher Durchbruch des Jahres gefeiert. Das Ergebnis: Wenn ein Mensch mit HIV in Behandlung ist und die Zahl der Viren durch die Medikamente über ein halbes Jahr so gering, dass sie nicht mehr nachweisbar sind, kann dieser Mensch praktisch niemanden mehr infizieren. Die Wahrscheinlichkeit, sich beim Sex ohne Kondom mit einem HIV-Infizierten in Therapie anzustecken, ist statistisch niedriger als beim geschützten Sex mit jemandem, von dem man nicht weiß, ob er infiziert ist.

Mehr als drei Jahrzehnte sind vergangen, seit Aids bekannt wurde. Am Anfang schien die Krankheit rätselhaft, weit weg. Dann rückte sie bedrohlich nahe. Wird sie jetzt beherrschbar?

Wolfgang Kohl, 53, Sozialarbeiter, leitet heute ein betreutes Wohnen für HIV-Positive und Menschen mit Aids. Die Zeiten, in denen er jede Woche auf mindestens einer Beerdigung war, sind vorbei. Trotzdem würde er niemals ungeschützten Sex haben.

Thorsten Winkler, 45, Veranstaltungstechniker, ist HIV-positiv und mit einem Mann zusammen, der nicht infiziert ist. Sein Freund will ihn schon seit einiger Zeit überreden, das Kondom mal wegzulassen.

Marco Erling, 33, gelernter Koch, benutzt nie Kondome. Eine bewusste Entscheidung. Er ging das Risiko ein, sich anzustecken.

Drei schwule Männer, die sich ähnlich sind. Sie leben gern in Berlin, haben viel Sex, auch mit Menschen, die sie kaum kennen. Sie setzen sich mit HIV auseinander, haben alle ehrenamtlich in dem Bereich gearbeitet. Aber sie wurden zu unterschiedlichen Zeiten geboren – und damit in unterschiedlichen Welten.

Die Welt des alten Aids, an dem man jämmerlich stirbt. Die Welt des neuen Aids, das gar nicht erst ausbricht, mit HIV als chronischer Erkrankung – irgendwie nervig, aber behandelbar. Und die Welt dazwischen.

Wie viel Respekt muss man noch vor dieser Krankheit haben? Die drei denken darüber sehr verschieden.

Sex ohne Kondom – oder gar keinen Sex?

Ein Wintertag im Stadtteil Prenzlauer Berg, Marco Erling kommt im dunklen Mantel ins Café. Er trägt Brille und Kinnbart und wirkt wie jemand, der in der Schule in der Schach-AG gewesen sein könnte. Schüchtern im Auftritt, aber sicher im Denken.

Er war 17, als er beschloss, keine Kondome zu benutzen. Er sagt: „Ich hatte alle Infos und traf daraufhin meine Entscheidung.“

Er hatte es ein paar Mal mit Kondom probiert. Und bekam keine Erektion. Wollte er Sex ohne Kondom oder keinen Sex?

Keine leichte Entscheidung, sagt er. Er hatte nach seinem Coming-out eine schwule Jugendgruppe besucht, die von der Aids-Hilfe organisiert wurde. „Ich wusste ziemlich genau, was mich im Falle einer Infektion mit HIV alles erwarten kann.“ Er habe sich entschieden, das Risiko einzugehen. Zu dieser Zeit gab es schon Medikamente, die HIV unter Kontrolle hielten, so dass es nicht zur tödlichen Krankheit wurde. HIV sei für ihn eine gut behandelbare chronische Erkrankung gewesen, sagt Erling.

Aber eben doch: eine chronische Krankheit. Die Last, jeden Tag Medikamente zu nehmen, die Übelkeit, Kopfschmerzen und Verdauungsprobleme mit sich bringen können. Kann so etwas gegenüber der Alternative, keinen Sex zu haben, ein kleineres Übel sein? Oder war es ein Spiel mit dem Risiko, eine irrationale Sehnsucht?

Nachfragen, um seine Sorglosigkeit zu verstehen, beantwortet Erling später in einer E-Mail so: Er wolle gesund bleiben, natürlich. „Aber mir ist wichtig, den Spaß am Leben nicht zu verlieren. Und den Spaß am Sex – zu beidem gehören Krankheiten einfach dazu.“

Trotzdem war er vor jedem HIV-Test aufgeregt und dann überrascht, dass er wieder und wieder negativ war. „Es ist so lange gutgegangen“, sagt er.

Er wurde risikobereiter. Bei einer Verabredung über eine Internetseite wusste er, dass sein Date HIV hatte. Es war der Mann, bei dem er sich ansteckte.

Er sagt, er habe neutral auf das Testergebnis reagiert. „Kein Drama. Es war die logische Konsequenz aus meinem Verhalten.“ Und doch, so sagt er heute, hat er die Krankheit beiseite geschoben. Als habe sie nichts mit ihm zu tun. Vielleicht war das seine Form von Schock.

Als er merkte, dass es so nicht geht, schloss sich Erling einer HIV-Jugendgruppe an. Irgendwann leitete er sie, organisierte Grillabende im Park im Sommer oder Theaterbesuche.

Man kann ihn am Wochenende auf Sex-Partys für HIV-Positive begleiten. Es sind Abende, an denen Erling eine halbe Stunde in der Schlange steht, bevor er einen Clubraum betritt, in dem vielleicht hundert Männer stehen. Junge und alte, mit Bauch oder ohne, einige nackt, andere nicht. An der Seite ist ein Büfett aufgebaut. Suppe, Obst, Bockwürste. Ein DJ spielt House.

Marco Erling steigt in den Keller hinab, der dafür da ist, dass Leute dort Sex haben. Jeder weiß, mit wem er es zu tun hat, HIV-Positive mit HIV-Positiven. Es gab eine Zeit, in der sie sich dafür rechtfertigen mussten, überhaupt Sex zu haben. Bevor Menschen wie Marco Erlinger kamen und sagten, dass es so etwas gibt wie Safer Sex ohne Kondom.

Schon seit Ende der neunziger Jahre, lange vor den ersten Studien, spekulieren Wissenschaftler, dass HIV-Positive, deren Viruslast durch die Therapie unter die Nachweisgrenze sinkt, andere nicht mehr anstecken könnten. Wissenschaftliche Belege haben sie dafür zunächst nicht.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die regionalen Aids-Hilfen, die für die Prävention verantwortlich sind, halten sich aus dieser Diskussion lange heraus. Sie entwerfen bunte Plakate mit Gurken und Rettichen, die für Sex mit Kondom werben. Mach’s mit!

Es ist eine Gratwanderung: Wie viel Differenziertheit verträgt die Debatte, wenn ein Viertel der Jugendlichen beim ersten Sex kein Kondom benutzt?

2008 veröffentlicht eine Schweizer Expertenkommission ein Statement, wonach das Restrisiko beim ungeschützten Verkehr mit einem therapierten Positiven bei lediglich 1:100.000 liege. Eine Revolution. Eine erfolgreiche HIV-Therapie biete etwas mehr Schutz als das Kondom. Allerdings knüpft die Komission ihre Botschaft an zwei Bedingungen: Die Menge der Viren, die Viruslast, müsse seit sechs Monaten unter der Nachweisgrenze sein, außerdem dürfe keine zweite sexuell übertragbare Infektion vorliegen, weil die das Infektionsrisiko erhöhe.

Der Gesundheitskommissar der Europäischen Kommission lässt sofort verkünden, die Studien aus der Schweiz sollten „unsere Aufmerksamkeit nicht von unseren Initiativen, der Förderung von ‚safe sex‘, ablenken“. Man dürfe nicht die falsche Botschaft verbreiten, dass Aids heilbar sei. Ein Geschäftsführer der Schweizer Aids-Hilfe sagt: „Man hätte diese Entdeckung besser nicht breit publiziert.“

In den kommenden Jahren bestätigen kleinere Studien die These von der Nichtinfektiosität; 2011 bringt eine internationale Studie Klarheit. Gut 1.750 Paare in Afrika, Südamerika, in Teilen Asiens und in den USA waren beteiligt, fast alle heterosexuell, jeweils einer der Partner hatte HIV. Eine Therapie schützt demnach zu 96 Prozent vor einer Infektion, Kondome nur zu 95 Prozent. Das Fazit: Es gibt keine sicherere Safer-Sex-Methode gegen eine HIV-Infektion als eine konsequent eingehaltene Therapie.

Für Marco Erling ist das die Gegenwart. „Ich bin in einer anderen Zeit groß geworden. Die alten Bilder von Aids waren so gut wie nicht mehr präsent“, sagt er.

Die alten Bilder. Es sind die Bilder, die sich tief in Wolfgang Kohl festgesetzt haben.

Wenn sich Kohl an den Anfang der achtziger Jahre erinnert, an den Spiegel-Artikel, in dem er zum ersten Mal von der geheimnisvollen Krankheit erfuhr, dann wundert er sich immer noch, wie schnell alles ging. „Es war so wie bei einem Gewitter.“ Er zeigt aus dem Fenster seines Büros in den Hinterhof des betreuten Wohnens für HIV-Infizierte. „Du hörst ein Donnergrollen und denkst, es ist noch ganz weit weg. Und plötzlich ist es über deinem Kopf.“ An einer Bürowand hängt ein Audrey-Hepburn-Plakat neben einem Rehgeweih. Auf einem verschnörkelten goldenen Hocker steht ein CD-Player.

Gerade war es noch die rätselhafte Seuche in den USA, plötzlich war es Aids in Westberlin, wo Kohl nun lebte. Die ersten Bekannten infizierten sich, später sein bester Freund. Dann ging los, was er „Massensterben“ nennt. Eine Beerdigung in der Woche, manchmal zwei. „Ich war 28 und dachte: In vier Jahren hast du keine Freunde mehr.“

Es war die Zeit, in der ein Publizist in der New York Times vorschlug, man solle Aidskranke tätowieren. Schwule auf dem Hintern und Drogennutzer auf dem Arm. „Es hatte was von Kriegszustand“, sagt Kohl. Ein Bild, das schief klingt, aber hilft, zu verstehen, was die Erfahrung des alten Aids mit Menschen machte.

Bei Kriegen gibt es die Kriegsgeneration, bis ins Mark geprägt von den Ereignissen. Meist schweigen sie später. Es gibt die Kriegskinder, die noch frühe Erinnerungen haben und die Traumata der Älteren mitnehmen. Dann gibt es die Nachgeborenen. Sie verstehen nicht, warum sich alle so seltsam verhalten.

Wolfgang Kohl hat aus dem No-Future-Gefühl eine Lebenslust entwickelt, aus Trotz gegen den Tod. „Im Grunde genommen wollte ich nie alt werden.“ Kohls langer grau-blonder Vollbart ist exakt gestutzt. Er trägt eine karierte Mütze, das Polohemd ist bis zum obersten Knopf zugeknöpft, dazu blaue Schuhe mit Lederschnürsenkeln.

Mitte der Achtziger fing er mit ehrenamtlicher Arbeit bei der Telefonberatung der Aids-Hilfe an; manche riefen mehrmals am Tag an, Aidsphobiker wurden sie genannt. Er gestaltete Aufklärungsabende in Kneipen und verteilte Kondome in Parks, in denen sich Männer zum Sex trafen. Die Hysterie sei damals überall gewesen, auch in Schwulenbars hätten sie diskutiert, ob man Leute mit Aids bedienen könne. Reichte es, ihre Gläser gründlich abzuwaschen?

Wolfgang Kohl hat sich lange geweigert, einen HIV-Test machen zu lassen – er wollte nicht, dass sich die Welt in „positiv“ und „negativ“ trennt. „Mit 40 zieht man Lebensbilanz. Da habe ich meinen ersten HIV-Test gemacht, auch als Bestätigung meiner Safer-Sex-Theorie.“

Dass therapierte Menschen mit HIV nicht mehr ansteckend sind, ändert für ihn nicht viel. Ihn freut es für Positive, weil es die Belastung nehme, jemanden anstecken zu können. Weil es helfe, Ausgrenzung abzubauen. Aber die Diskussionen, die daraus folgen, findet er gefährlich.

Für Kohl ist es noch nicht lange her, dass der Schauspieler Tom Hanks 1993 im Film „Philadelphia“ vor Gericht sein Hemd auszieht und die dunklen Flecken auf seiner Brust zeigt.

Solche Aids-bezogenen Krankheiten sind dank der Medikamente gegen HIV selten geworden. Dank der Zeitenwende, die 1996 mit der Welt-Aids-Konferenz in Vancouver begann. Hier wurde eine Kombinationstherapie aus drei Wirkstoffen vorgestellt: Die Tabletten blockieren die Vermehrung des Virus, die Zahl der Erreger sinkt. Wenn alles gut verläuft, kann HIV wenige Wochen nach Beginn einer Behandlung nicht mehr nachgewiesen werden.

In Deutschland kann, im Prinzip, jeder Erkrankte diese Therapie bekommen, die Kasse zahlt. In vielen Ländern ist das anders. 90 Prozent aller Mädchen und Jungen, die weltweit infiziert sind, lebten 2012 in Afrika südlich der Sahara. Allerdings gab es im selben Jahr dort auch den größten Fortschritt in der Versorgung mit Medikamenten. Mit globalem Blick gesehen, ist die Menschheit aber noch weit davon entfernt, die Krankheit als lästiges Übel betrachten zu können, wie es Marco Erling tut.

Das Logo der Welt-Aids-Konferenz, zu der sich ab Sonntag 18.000 Menschen im australischen Melbourne treffen, sind Aidsschleifen in Form von Fußabdrücken. Nach hinten werden sie immer kleiner. Schritte hin zu einer Welt ohne Aids.

Ärzte sagen, hierzulande sollte Aids nicht mehr vorkommen. Sollte. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Institut erhielten 2012 820 Menschen ihre HIV-Diagnose erst, als das Immunsystem bereits geschädigt war. 2013 gab es etwa 3.260 HIV-Neudiagnosen – 10 Prozent mehr als 2012. Das liegt aber wohl vor allem daran, dass die Laborverfahren genauer werden und sich mehr Menschen testen lassen.

Insgesamt lebten 2012 rund 78.000 HIV-Positive in Deutschland, jedes Jahr sterben hier 500 Menschen an den Folgen ihrer Infektion.

HIV ist immer noch nicht heilbar, weil sich der Erreger in einigen Zellarten besonders hartnäckig versteckt, etwa im Gehirn, und selbst dann wieder hervorkommen kann, wenn er über Monate im Blut nicht mehr nachweisbar war. 2013 hatten Wissenschaftler vom sogenannten Mississippi-Baby berichtet, das sich im Mutterleib mit HIV angesteckt hatte und schon Stunden nach der Geburt mit Medikamenten behandelt wurde. Als die Mutter die Therapie nach einiger Zeit absetzte, blieb das Mädchen HIV-negativ. Ein Wunder. Oder ein Beweis, dass HIV heilbar ist, wenn die Viren noch keine Chance hatten, sich zu verstecken? Vergangene Woche meldeten die Ärzte, dass sie wieder Spuren von HI-Viren im Blut des Kindes gefunden haben.

Für Marco Erling ist klar, dass andere bedenkenlos mit ihm schlafen können – ohne Kondom und obwohl er HIV-positiv ist.

Wolfgang Kohl sieht es anders. Er bleibt lieber misstrauisch. Wie kann er sich sicher sein, dass sein Gegenüber die Medikamente regelmäßig nimmt? „Da ist es doch einfacher, ein Kondom rüberzureichen“, sagt er.

Thorsten Winkler hat lange gebraucht, um seinen eigenen Weg zwischen diesen beiden Welten zu finden.

Winkler sitzt im Hinterzimmer einer Bar, in der er als Techniker arbeitet. Rundes Gesicht, braune, fransige Haare.

HIV-Infektionen gab es bisher in Deutschland. Etwa 14.000 Menschen wissen nicht, dass sie HIV-positiv sind Quelle: Robert-Koch-Institut 2012

Prozent der Deutschen sahen 1987 Aids als gefährlichste Krankheit an. 2011 waren es nur noch 13 Prozent Quelle: Bericht der BZgA 2013

Millionen Kondome wurden 2013 in Deutschland verkauft. Im Jahr 1984 lag der Absatz noch bei 84 Millionen

Quelle: Deutsche Latex Forschungsgemeinschaft Kondome

Prozent der Deutschen sagten 1989, sie hätten einen „körperlichen Widerwillen“ gegen Kondome. 2011 waren es 9 Prozent Quelle: BZgA-Studie 2011

Prozent der Erwachsenen mit Abitur denken, dass HIV durch Küssen übertragen werden kann Quelle: BZgA-Studie 2011

Länder verweigern per Gesetz die Einreise von Menschen mit HIV. Dazu gehören der Irak, Singapur und der Sudan Quelle: Deutsche Aidshilfe 2013

Er hat sich Anfang 1997 mit HIV angesteckt. Er weiß es genau, weil er eine Bußgeld-Quittung aus dem Januar des Jahres aufgehoben hat. „Ich war so fiebrig an dem Tag, stand völlig neben mir. Lief durch die Einkaufsstraßen, sah eine Postkarte, steckte sie ein und ging einfach weiter. Man rief mir hinterher. Hielt mich auf. Ich musste 50 Mark wegen Diebstahl zahlen.“ Grippeartige Symptome können auf eine frische HIV-Infektion hindeuten. Seine Ärztin meinte: irgendein Virus, geht sicher vorbei.

Auf HIV testen ließ Winkler sich erst, als sein ehemaliger Freund einige Zeit nach der Trennung sagte, er habe einen Test gemacht und sei positiv. Auch er hatte sich fiebrig gefühlt.

Thorsten Winkler kämpft seit zwölf Jahren mit Medikamenten gegen das Virus. „Mir war schnell klar, dass ich zumindest auf dem Papier HIV-negativ bin. Trotzdem: HIV ist ja nicht weg.“ Dass er deswegen nicht ansteckend sein könnte, darauf kam er nicht.

Die Neunziger, als Stars verwelkten und starben

Winkler kennt die Zeiten des alten Aids, sah Anfang der Neunziger Stars auf der Bühne verwelken und dann sterben. Das Kondom war für ihn obligatorisch. Dann, vor einem Jahr, schlug ihm sein Freund vor, darauf zu verzichten. Sein Freund, der kein HIV hat. Eine waghalsige Idee – wirklich ohne Risiko?

Es war ein Artikel über die Studie von 2011, der Thorsten Winkler dazu brachte, das Kondom nun manchmal wegzulassen.

Eine große Entscheidung in einem Land, in dem ungeschützter Geschlechtsverkehr mit HIV-Infektion unter Paragraf 223 und 224 des Strafgesetzbuches fällt, Körperverletzung. Strafbar ist bereits der Versuch. Darum heißen Marco Erling und Thorsten Winkler in Wirklichkeit anders als in diesem Text.

Seit 1987 wurden 35 HIV-Positive wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Der prominenteste Fall ist vier Jahre her.

Die Sängerin Nadja Benaissa von der Band No Angels wurde vor einem Konzert von der Polizei abgeführt. Ein Exliebhaber warf ihr vor, ihn mit HIV infiziert zu haben. Das Urteil: zwei Jahre auf Bewährung und 300 Sozialstunden im Aids-Hospiz. Zeitungen nannten sie „Todesengel“.

Es kann nur vor Gericht landen, wer weiß, dass er ansteckend sein könnte. Etwa 70 Prozent der Infektionen, schätzen Experten, gehen von Menschen aus, die nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind. Am größten ist die Gefahr bei frisch Infizierten, weil die Zahl der Viren besonders hoch ist. Meist haben sie noch keinen Test gemacht.

Wenn der Test positiv ist, dauert es oft noch Jahre, bis mit der Therapie begonnen wird. Erst wenn der Körper so lange gekämpft hat, dass ein bestimmter Blutwert unterschritten ist, verschreiben Ärzte Medikamente. Es ist nicht erwiesen, ob es Vorteile hätte, früher zu beginnen.

Wenn aber alle Positiven sofort behandelt würden und bald nicht mehr ansteckend wären, könnte die Zahl der Infektionen sinken. Es sind die Diskussionen, die jetzt folgen. Die Weltgesundheitsorganisation schlug kürzlich vor, dass Männer, die Sex mit Männern haben, vorbeugend HIV-Medikamente nehmen. In den USA gibt es schon länger eine Tablette zur Prävention.

Auch bei Marco Erding begann die Therapie erst Jahre nach der Infektion. Er hatte Sex ohne Kondom gehabt und sich dabei angesteckt. Nun hatte er Sex ohne Kondom – und wusste, dass er andere anstecken könnte. Seine Haltung damals: „Wer negativ bleiben will, muss bei jedem Sexpartner davon ausgehen, dass der irgendwas Ansteckendes hat – und sich schützen“, sagt er.

Wenn der andere ihn vor dem Sex fragte, sagte er, dass er infiziert ist. Wenn der andere nicht fragte, nicht. Es sei nicht seine Aufgabe, andere zu schützen.

Diese Worte können brutal klingen, wie das Verbrechen, das im Strafgesetzbuch geahndet wird. Oder wie die radikale Fortsetzung des Gedankens: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Ich. Und der andere auch.

„Ich würde mich heute genauso für kondomlosen Sex entscheiden wie vor 16 Jahren“, sagt Marco Erling.

„Ich möchte bis heute nicht HIV-infiziert sein“, sagt Wolfgang Kohl.

Thorsten Winkler macht sich jetzt manchmal Sorgen, er könnte seinen Freund beim ungeschützten Sex mit anderen Krankheiten infizieren.

Er hat Angst vor Hepatitis C.

Jörg Schmid, 38, lebt als Autor in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern

Luise Strothmann, 28, ist sonntaz-Redakteurin