Wissen wir zu wenig über Sex, Frau Henning?

BEDÜRFNISSE Der eine will nie, die andere kommt nie, der Dritte will eigentlich nicht so hart. Und alle scheinen erleichtert, mal darüber reden zu können. Wir haben die Sexfragen unserer Leserinnen gesammelt und sie mit Ann-Marlene Henning diskutiert. Der neuen Chefaufklärerin der Nation

■ Die Frau: 1964 in Dänemark geboren, studierte Ann-Marlene Henning Jura, zog dann nach Hamburg und arbeitete als Model. Sie begann ein Studium der Neuropsychologie und schließlich ihre Ausbildung als Sexologin und Paartherapeutin. Heute hat sie eine Praxis in Hamburg-Eppendorf.

■ Die Bücher: „Make Love“, ihr Aufklärungsbuch für Jugendliche, war 2013 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. „Make More Love. Ein Aufklärungsbuch für Erwachsene“ erschien im September. Es beschäftigt sich auch mit dem Sex ab 40.

■ Die Serie: Seit November 2013 moderiert Ann-Marlene Henning die Doku-Serie „Make Love – Liebe machen kann man lernen“. Die neue Staffel beginnt an diesem Sonntag um 22 Uhr im MDR. Diesmal geht es um lustlose Männer und Sex in den Wechseljahren.

VON STEFFI UNSLEBER
(INTERVIEW) UND ANJA WEBER (FOTO)

Hamburg-Eppendorf im Herbst. Selbst die Häuser sehen zufrieden aus mit ihren Vorgärten und den Balkons aus Schmiedeeisen. „Beratung in Beziehungsfragen“, steht auf einer Klingel neben einer blau gestrichenen Holztür. Es knackt, dann sagt Ann-Marlene Henning: „Also gerade geht es nicht! Können Sie später wiederkommen?“ Später steht sie in ihrer Küche, kocht Kaffee mit Mandelmilch und füllt glutenfreie Waffeln in ein Schälchen. „Wir haben hier überall so gesundes Zeug.“ Ihre Praxis ist gleichzeitig auch ihre Wohnung. Viel Holz, viele Kissen. Sie hat noch schnell geduscht vor dem Interview. Als die Klingel ging, stand sie gerade nackt im Zimmer. Jetzt sitzt sie auf dem Therapeutenstuhl in ihrem Praxiszimmer und streicht sich mit den Händen die Haare glatt.

taz: Frau Henning, Sie haben das gefeierte Aufklärungsbuch „Make Love“ geschrieben und geben im Fernsehen Aufklärungsunterricht. Die Menschen, die zu Ihnen kommen, wirken dankbar, wenn Sie den Aufbau der Klitoris erklären oder neue Sexstellungen empfehlen. Warum ist dieses Bedürfnis nach wie vor so groß?

Ann-Marlene Henning: Das liegt an der Scham. Die Leute sprechen nicht offen über Sex und wissen deshalb wenig darüber. Sie haben Angst, dass sie abgelehnt werden, wenn sie zugeben, dass bei ihnen etwas nicht so gut läuft. Es gab noch nie eine Zeit, in der man wirklich reden durfte. Die Siebziger, meinetwegen, da gab es eine Welle an Aufklärungsliteratur und -filmen. Aber über den eigenen, intimen Sex haben viele Menschen auch damals nicht gesprochen. Obwohl das Angebot an Sex überwältigend ist und der Druck, was man können und wie man aussehen muss, sehr hoch ist, bleibt es dabei: Über Swingerclubs wird diskutiert, über Sadomasochismus, über Lack und Leder, nur über den ganz normalen Sex, den jeder lebt, spricht kaum einer.

Ist es nicht verständlich, dass Menschen sich einen intimen Raum bewahren möchten? Ich fände es verstörend, wenn ich mit einem Paar essen gehen würde und sie plötzlich erzählen würden, was sie vergangene Nacht gemacht haben.

Ja, klar. Man muss nicht immer reden – und sowieso nicht über alles. Aber viele Leute haben Probleme im Bett und wissen wenig. Und dann glauben sie, was sie überall hören: Nämlich dass es bei allen super läuft. Wenn mir aber meine Freundin erzählt, dass sie nicht so oft Sex hat oder dass sie nur kommt, wenn sie sich selbst anfasst, dann weiß ich, dass das normal ist. Wenn ich selbst entspannt bin, und meine Maske unten ist, werden die Leute auch entspannt. Oder Kinder: Die sind völlig unversaut, man kann normal mit ihnen über ihr Geschlecht sprechen, und ihnen sagen, dass es okay ist, wenn sie sich dort anfassen. Stattdessen heißt es immer: Pssst!

Da in fast jeder Studie etwas anderes steht: Was sagen Sie? Sind die Menschen in Deutschland eher zufrieden oder eher unzufrieden mit ihrem Sexleben?

Erstaunlicherweise heißt es in den meisten Studien, dass sie eher zufrieden sind – aber die Praxen der Sexualtherapeuten sind voll. Die Frage ist: Gibt jemand zu, dass er zehn Jahre lang keinen Sex hatte? Da gibt es hohe Dunkelziffern.

Jeder kann etwas beim Sex verbessern. Das ist Ihr Mantra. Noch so ein Bereich meines Lebens, den ich optimieren muss?

Das kann doch auch Spaß machen. Ich bin selbst ein gutes Beispiel dafür. Ich habe mit zwölf entdeckt, dass ich kommen kann, habe das trainiert und weiterentwickelt. Aber ich hatte bis vor wenigen Jahren keinen Orgasmus, ohne dass die Klitoris mitstimuliert wurde. Ich war nicht unglücklich, weil ich nicht wusste, dass ich das können muss. Aber als ich Sexocorporel studiert habe, einen sexualtherapeutischen Ansatz, habe ich Welten entdeckt, die kannte ich nicht. Den vaginalen Orgasmus etwa: ohne Hände! Wobei er fachlich gesehen auch ein klitoraler ist, da sich fast achtzig Prozent der Klitoris in der Vagina befinden. Die Perle außen ist nur die Spitze des Berges.

Und wenn man mit mittelmäßigem Sex zufrieden ist?

Auch in Ordnung. Es gibt sogar Leute, die sagen: Wir haben den Sex abgestellt. Und ich antworte: fein. Und erwähne nicht mal das schlagende Gegenargument: Dass sie wahrscheinlich länger leben würden, wenn sie welchen hätten. Aber wenn Leute in Praxen wie meine kommen, wollen sie etwas lernen. Dann haben sie Probleme, die zu groß, zu schwer geworden sind.

Wenn man sich die Aufklärungsliteratur von früher anschaut, hat man oft das Gefühl, dass sich die Autoren mit aller Gewalt gegen etablierte Verbote wehren müssen. Günter Amendt schreibt zum Beispiel in „Sexfront“, junge Menschen sollten so oft onanieren, wie es ihnen Spaß macht.

„Sexfront“ liegt bei mir auf dem Küchentisch, ich habe gestern erst darin gelesen. Günter Amendt war mein Nachbar und ein toller Mensch. Aber bei der Onanie würde ich zurückziehen. Junge Männer wichsen heute „mit links“ vor dem Bildschirm, die rechte Hand liegt auf der Maus. Wenn sie das ständig machen, wird das Belohnungssystem überstrapaziert und ermattet irgendwann. Dann wollen oder können sie mit einer normalen Frau gar keinen Sex mehr haben. Ältere Männer können sich das zügiger wieder abtrainieren, weil sich das Gehirn an analogen Sex erinnert. Junge Männer sind oft mit Pornos aufgewachsen und haben es schwer, weil es kein Davor gab.

Ein Plädoyer gegen Onanie?

Nein. Nur gegen zu viel Onanie vor dem Bildschirm. Onanieren an sich ist wichtig, um Dinge auszuprobieren. Man kann lernen, weniger schnell zu kommen – oft die Männer – oder überhaupt zu kommen – meist die Frauen. Aber wenn ich unterwegs bin, onaniere ich vielleicht nicht am Morgen, bevor ich nach Hause fahre.

Warum?

Man ist erstmal nicht mehr so leicht erregbar. Es gibt Untersuchungen, dass es bei Männern eine Woche dauert, bis ihr Testosteronspiegel wieder auf dem gleichen Niveau ist wie vor ihrem Orgasmus. Deshalb kann es sich lohnen, sich den Höhepunkt manchmal aufzusparen.

Sie empfehlen, auf den Orgasmus zu verzichten?

Ich mache das manchmal: Sex. Aufhören. Sex. Aufhören. So hält sich die Energie, und die Erregung steigt immer weiter.

Es klingelt. Der nächste Termin steht schon unten, ein Paar. „Schnell, es ist nicht gut, wenn sie Sie sehen“, flüstert Henning. „Tun Sie, als wären Sie eine Nachbarin.“ Zum Abschied winkt sie diskret.