Fallprüfungen gefordert

RECHT EU-Sozialkommissar Andor ist Streit über Hartz IV für EU-Bürger zu „emotional“

Großbritannien verschärfte eine Art Aufnahmetest: Sprachkenntnisse werden mit überprüft

VON ERIC BONSE
UND BARBARA DRIBBUSCH

BRÜSSEL/BERLIN taz | Im Streit über MigrantInnen aus Bulgarien und Rumänien hat sich die EU-Kommission um Beruhigung bemüht. Die Debatte, die in Deutschland unter dem Stichwort „Sozialtourismus“ geführt wird, sei „viel zu emotional“ und „voller Missverständnisse“, sagte EU-Sozialkommissar Laszlo Andor am Montag in Brüssel. Die Freizügigkeit für ArbeitnehmerInnen sei „eine große Errungenschaft“ und müsse verteidigt werden.

Andor vermied es, direkt auf die aufgeheizte deutsche Diskussion einzugehen. Er stellte zunächst einen Leitfaden vor, der es den Behörden erleichtern soll, den „gewöhnlichen Aufenthaltsort“ von Einwanderern und damit auch ihre Sozialansprüche zu klären. Vom Aufenthaltsort hängt ab, ob das Recht des Heimat- oder des Gastlandes gilt.

Ein einheitliches EU-Recht gibt es im Sozialbereich nicht. Doch der Leitfaden der Kommission interessierte die meisten Journalisten nur am Rande. Die Stimmung war aufgeheizt, als Andor sich den Fragen der Presse stellte.

Britische Reporter wollten wissen, ob London die Zahlung des Kindergeldes an MigrantInnen einschränken dürfe. RumänInnen beklagten sich über Diskriminierung. Und dann kam die unvermeidliche Frage nach den Hartz-IV-Ansprüchen in Deutschland. Es sei nicht wahr, dass Brüssel einen Automatismus fordere, nach dem Hartz-IV-Leistungen den EU-MigrantInnen gewährt werden müssten, betonte Andor. „Es muss eine Einzelfallprüfung stattfinden.“

Die EU-Kommission hatte in der vergangenen Woche in einer Stellungnahme zu einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) den pauschalen Ausschluss arbeitsloser EU-MigrantInnen von Hartz-IV-Leistungen gerügt.

In den europäischen Ländern unterscheiden sich die Arbeitslosenversicherungen deutlich. In Frankreich etwa beruht die Arbeitslosenversicherung allein auf Beitragsmitteln. Da arbeitslose EU-MigrantInnen nicht eingezahlt haben, bekommen sie auch keine Leistung von diesen Kassen. Auch in Italien muss man zuvor beschäftigt gewesen sein, um Mittel aus der Arbeitslosenkasse zu bekommen.

Komplizierter ist es in Großbritannien und in Deutschland. Das liegt an der Struktur der „Jobseeker Allowance“ und des „Arbeitslosengelds II“ (Hartz IV). Diese Leistungen bekommen Langzeitarbeitslose, auch wenn sie nie zuvor in eine Arbeitslosenkasse eingezahlt haben.

In Großbritannien haben EU-MigrantInnen nach drei Monaten Aufenthalt im Prinzip Anspruch auf die „Jobseeker Allowance“ für sechs Monate. Um tatsächlich berechtigt zu sein, müssen die MigrantInnen jedoch einen sogenannten Habitual Residence Test absolvieren, der im Dezember 2013 drastisch verschärft wurde. Insbesondere wird in dem Test danach gefragt, ob mangelnde Sprachkenntnisse ein Hindernis sein könnten, um Fuß zu fassen auf dem britischen Arbeitsmarkt. Großbritanniens Arbeitsminister Ian Duncan Smith von den Konservativen verteidigte die Verschärfung. Man dürfe „die Integrität des Sozialsystems“ nicht gefährden.

In Deutschland gibt es einen Passus im Paragrafen 7 des Sozialgesetzbuches II, wonach erwerbslose EU-MigrantInnen, die nur „zur Arbeitssuche“ in Deutschland sind, keinen Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen haben. Dieser grundsätzliche Ausschluss wird aber von den Sozialgerichten in Frage gestellt.

Der EuGH hatte 2009 geurteilt, dass arbeitssuchende EU-MigrantInnen sich auf die „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ berufen und Arbeitslosengeld II beantragen könnten, wenn sie eine „Verbindung“ mit dem Arbeitsmarkt des Herkunftsstaates nachweisen können. Im verhandelten Fall hatte der Betroffene in Deutschland eine sehr kurze Beschäftigung gehabt.

Würde der EuGH auch weiterhin dieser Rechtsprechung folgen, bekämen EU-MigrantInnen, die noch nie hier gearbeitet haben und kein Deutsch sprechen, allerdings nach wie vor kein Hartz IV.

(Mitarbeit: Ralf Sotscheck)

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