Ein Rest von Geheimnis

Sieben Minuten mit dem Fließband durch die Fabrik: Das Festival Doku.Arts in der Akademie der Künste steigt tief in die Auseinandersetzung über die Rolle der Kunst in Zeiten der Globalisierung ein

VON CLAUDIA LENSSEN

Der zweieinhalbstündige Portraitfilm „brando“ bleibt die Ausnahme beim Doku.Arts-Festival, das heute in der Akademie der Künste beginnt. Groß angelegt ist der Versuch der beiden Filmemacherinnen Mimi Freedman und Leslie Greif, dem Phänomen Marlon Brando mit Zeitzeugnissen und Hommagen auf die Spur zu kommen. Sie blättern die Chronik seines Nonkonformisten-Lebens mit einer Flut von Privat- und Pressefotos, Clips aus verblichenen Fernsehtalkshows, Szenereportagen, Theaterdokumenten und Filmausschnitten auf. Das ist eine atemlos geratene Würdigung, die Feier eines Rebellen der Nachkriegsära, der als sensitiver Macho mit Leidensaura legendär geworden ist, dessen Engagement für die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen und der Indianer darüber jedoch vergessen wurde.

Eine Ausnahme ist der Film, weil die meisten Zeugen, wie Al Pacino, Karl Malden, Arthur Penn, Jane Fonda, Sean Penn, Johnny Depp und andere Kollegen und Schüler, das Wundertalent nur in der konventionellen Form als sprechende Köpfe vor farbiger Studiowand feiern. „brando“ wird neben einer Pay-TV-Ausstrahlung nur auf dem Doku.Arts-Festival zu sehen sein. Er ist, wie auch ein weiteres Special, der 15 Jahre alte Film „Luck, Trust and Ketchup“, ein Making-of zu „Short Cuts“ und eine Hommage an den verstorbenen Robert Altman, zugleich eine Liebeserklärung und ein informativer Hintergrundbericht. Für die avancierten Ansätze, mit denen Dokumentarfilme in den letzten Jahren über Künste und Künstler berichten, sind die Hollywood-Storys indes nicht repräsentativ.

Doku.Arts ist ein „internationales Festival für Filme zur Kunst“ und zeigt abendfüllende Essays über Theaterleute, Fotografen, bildende Künstler, Literaten, Musiker und Filmkünstler. Intensiver, ausdauernder und ambivalenter als die üblichen Häppchen der Kulturmagazine setzen sie sich mit der Rolle der Kunst in Zeiten der Globalisierung und des Gefälles zwischen Arm und Reich auseinander. Zum Beispiel in „Photo Souvenir“ der holländischen Filmemacher Paul Cohen und Martijn van Haalen. Das ist eine eindringliche Erkundung verlorener afrikanischer Fotokunst. In Niger besuchten sie Philippe Koudjina, der nach der Unabhängigkeit das Lebensgefühl seiner Generation in magischen Schwarzweißaufnahmen festhielt, jetzt aber als Invalide kaum Bilder und Ausrüstung besitzt. Behutsam lassen sie sich von der einstigen Rock-’n’-Roll-Atmosphäre erzählen und montieren Koudjinas Verlustgeschichte gegen den wachsenden Erfolg anderer afrikanischer Fotografen wie Malick Sidibé, die – Zufall oder nicht – im Kunstmarkt reüssieren.

Grausam faszinierende Beweispanoramen von der Industrialisierung und ihren Folgen sammelt der kanadische Fotograf Edward Burtynski. Jennifer Baichwal begleitete ihn in „Manufactured Landscapes“ auf einer Tour durch gigantische chinesische Fabriken – ganze sieben Minuten fährt sie an den Fließbändern in einer Fabrikhalle vorbei. Erodierte Ödnis, Müllhalden und Schiffsfriedhöfe, Baustellen und fürs steigende Stausee-Wasser plattgemachte Dörfer: die Momentaufnahmen ihrer Filmkamera nehmen den Diskurs mit Burtynskis monumentalen Schreckensdenkmälern auf.

Wie filmt man Künstlerpersönlichkeiten, ohne indiskret zu werden? Wie setzt man sie filmisch in Beziehung zu ihrem Werk? Mehrere Filme, zumal die ansehnliche Zahl von Altersporträts machen sich im Zwiespalt zwischen Neugier und Nähe, Bewunderung und Altersdistanz angreifbar. Meist mit leichtem digitalem Equipment gedreht, sind unmittelbare Aufnahmen möglich, gegen die sich die Porträtierten gelegentlich sträuben. Frank Wierke besuchte für „Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland“ den 83-jährigen Poeten und Übersetzer Michael Hamburger in seinem Haus im englischen Middleton. Andrea Ditges wählte dieselbe Form der direkten Annäherung, wenn sie mit einem Strauß Rosen in der einen und der Kamera in der anderen Hand die 95-jährige Dichterin Hilde Domin in ihrem Heidelberger Haus besucht. Domin (neben der Theaterregisseurin Ariane Mnouchkine, der Porträtmalerin Alice Neels und der Bildhauerin Louise Bourgeois eine der wilden alten Damen des Festivals) lässt die Filmemacherin, die in den Charme und die Kraft der Greisin verliebt ist, an ihrem Alltag, ihrer Naturliebe, ihren Erinnerungen und ihrer Erschöpfung teilhaben. Auch die Abwehr zu großer Zudringlichkeit täuscht in „Ich will dich – Begegnungen mit Hilde Domin“ nicht über ihre Freundschaft hinweg. Beide Filme sind berührende letzte Zeugnisse. Michael Hamburger und Hilde Domin, beide vor Hitler einst ins Exil geflohen, starben inzwischen.

Doku.Arts zeigt Filme, die an die Stelle bloßer Gedenkbeiträge die kreative Auseinandersetzung mit den Künsten und ihren Protagonisten setzen. In vielen Festivalbeiträgen sind die Filmer mit den Gefilmten ins Gespräch vertieft. Man nimmt am beständigen Austausch an der Frage teil, welchen Anteil die Persönlichkeit der Künstler an ihrem Werk hat und was ihr Geheimnis bleibt.

Doku.Arts, Internationales Festival für Filme zur Kunst, 19.–23. 9., in der Akademie der Künste am Hanseatenweg. Programm unter www.doku-arts.de