Poesie in der Mittagspause

Lyrik hat Konjunktur – derzeit auf dem Poesiefestival in Berlin. Längst wird darüber nachgedacht, wie man den Boom unterfüttern kann – mit einem Zentrum für Poesie?

Mitgründer fürs Zentrum gibt es schon. Suhrkamp ist dabei. Und Jörg Drews

Das Kassensystem der Berliner Akademie der Künste brach kürzlich zusammen. Überraschend: Es ging dabei um Lyrik. Mehr als 500 Besucher kamen zum ausverkauften Eröffnungsabend des Poesiefestivals, das in dieser Woche in Berlin stattfindet. Thomas Wohlfahrt, Leiter des Festivals, kann einen Triumph in der Stimme kaum unterdrücken. „Die Poesieszene erlebt eine Renaissance, Lyrik bekommt Konjunktur“, sagt er.

Man möchte sich in der Tat die Augen reiben. Denn die Statistik des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels spricht eigentlich eine andere Sprache. Die Genres Essayistik, Dramatik und Lyrik machen zusammen (!) weniger als zwei Prozent der Neuerscheinungen aus. Tendenz fallend. Thomas Sparr, Geschäftsführer des Suhrkamp Verlages, betitelt Lyrikveröffentlichungen gar als „ökonomisches Wagnis“. Wie passt das mit dem Erfolg des Festivals zusammen?

„Live“ scheint das Lösungswort zu sein. Je lebendiger Gedichte präsentiert werden, desto größer das Publikumsinteresse. Das kann man bei Gesamtperformances wie von Olinda Beja gut sehen. In afrikanischer Tracht stand die Dichterin aus Sao Tomé auf der Bühne der Akademie. Auf der Videoleinwand hinter ihr wogten Wellenbilder, begleitet wurde sie von einem Gitarristen. Olinda Beja sang auf Portugiesisch „Ingwerworte, aus denen wilde Ananas rinnt“, die deutsche Übersetzung wurde simultan an die Wand projiziert. Leise summten die Gäste das Gedicht von der „Saudade“, der schmerzlichen Sehnsucht, mit: „Hmmm … zulu tê tê tê“. Von solchen poetisch bewegten Sinnlichkeitserfahrungen zehrt das Festival.

Klassisch vorgetragen oder in Kombination mit Musik und Videos – es ist das Konzept der multimedialen Aufbereitung, das Dichtern und Spoken-Word-Künstlern insgesamt Konjunktur beschert. Und es gibt noch ein zweites Konzept: Vernetzung. Dabei vernetzen sich die Lyriker vor allem im Internet, etwa auf lyrikline.org. Der User kann auf der Website nicht nur 4.800 Gedichte aus 49 Sprachen lesen, er kann sie gleichzeitig hören. Die Gedichte sind zudem in 44 Übersetzungen verfügbar, darunter Kleinstsprachen wie Wayuunaiki. Gegründet wurde die Initiative pünktlich zum „Welttag der Poesie“, den die Unesco am 21. März 2000 erstmalig ausrief.

Bereits über drei Millionen Mal wurde die Website bisher angeklickt, vor allem – kurios! – in der Mittagspause. Lyrik als meditativer Moment im hektischen Büroalltag also? „Poesie ist im Grunde zeitgemäß. Sie ist konzentrierter Sinngehalt, der relativ schnell konsumiert werden kann“, analysiert Projektleiter Heiko Strunk. Mit der ehrfürchtigen Art und Weise, wie traditionell über Lyrik gesprochen wird, hat das nur wenig zu tun. Konzentrierte Gedichte existieren dabei auf der Homepage aber neben Werken, die sich nur mit viel Ruhe und Zeit rezipieren lassen.

Während bei lyrikline.org Verse per Mausklick zu hören sind, gibt man sich im Münchener Lyrik Kabinett konservativ. Wer Gedichte lesen möchte, muss in die hauseigen Bibliothek kommen. Gründerin Ursula Haeusgen: „Das Buch bleibt das Leitmedium für die Poesie.“ Seitdem hier 1989 Wolfdietrich Schnurre in einer ersten Lesung Adornos Diktum über Gedichte nach Auschwitz widersprach, betraten über 700 Autoren das Podium des Kabinetts. Es hatte unterdessen immer wieder mit finanziellen Engpässen zu kämpfen.

Längst wird darüber nachgedacht, wie man den Poesieboom angemessen institutionell unterfüttern kann. „Das private Lyrik Kabinett ist die einzige Institution in Deutschland, die ausschließlich die Poesie fördert“, sagt Festivalleiter Wohlfahrt, von Kleinprojekten abgesehen. Seit Jahren fordert er ein Zentrum für Poesie, wie es es in anderen Ländern schon gibt.

Potenzielle Gründungsmitglieder sind laut Wohlfahrt, der auf dem Festival ein Podium zum Thema organisierte, bereits gefunden – darunter der Suhrkamp Verlag und Jörg Drews, Mitbegründer des Bielefelder Colloquium Neue Poesie, mit dessen Schließung im Jahre 2002 die Dichtkunst eines ihrer renommiertesten Foren verlor.

Letztendlich bleibt die Frage, ob sich für die Aktivitäten eines Poesiezentrums genügend Publikum finden ließe. Strunk ist überzeugt, dass die hörbaren Gedichte auf lyrikline.org bereits ein Interesse aktiviert haben, das andernfalls weiter brach liegen würde. Tatsächlich scheint die Präsentation im Netz und auf Festivals der Schlüssel zu sein, der Lyrik langfristig zu einer Konjunktur verhilft. Poesieleser im Internet sind schließlich potenzielle Besucher von Lesungen. Und am Ende des Abends kaufen sie vielleicht ein gedrucktes Buch. SASKIA VOGEL