Jedes Leben bekommt elf Minuten

Die Dokumentation „Vienna’s Lost Daughters“ porträtiert jüdische Frauen, die als Kinder nach England gehen mussten

Acht Frauen, alle zwischen 1920 und 1930 in Wien geboren, alle Töchter jüdischer Familien, alle Überlebende. Mirjam Unger, eine aus Wien stammende Regisseurin, hat sie mit ihrer Kamera in New York, wo sie seit Jahrzehnten leben, besucht, mit „Vienna’s Lost Daughters“ sollte dabei keine Schicksalspeepshow entstehen, sondern „eine Chance, das Schreckliche zu verstehen“, wie Miriam Unger sagt.

Es geht um den Verlust von allem, von Familie, Heimat, Eigentum: Als Kinder, 1938, 1939, nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland, wurden die Frauen von ihren Eltern nach England geschickt. Die hatten das Schlimmste vorausgeahnt. „Meine Mutter hat mich zweimal geboren. Bei meiner Geburt und als sie die Stärke hatte, mich zum Kindertransport zu schicken“: Im Film sieht man Anita Nagel Weisbord, eine der acht, wie sie diese Sätze im Holocaust-Zentrum in Nassau County spricht, dort, wo Schulklassen lernen sollen: „Wenn du siehst, wie jemand schikaniert wird, greif ein! Schau nicht tatenlos zu!“

„Vienna’s Lost Daughters“ ist leider ein hochproblematischer Film. Nicht, weil die acht Damen, so zusammengewürfelt sie auch wirken mögen, kein unterhaltsames Klübchen abgeben. Im Gegenteil: Jüdinnen, die in ihrer Kindheit alles verloren haben außer ihrem Leben, scheinen – so suggeriert es zumindest der Film – anschließend Sorge dafür zu tragen, dass das Weiterleben ein bisschen Spaß bringt. Mirjam Unger zeigt sie beim Sachertorte- und Keksebacken, auf dem Tennis-Court, beim Yoga, beim Liedchensingen und Klönen mit Freundinnen. Das Problem jedoch ist, dass der Film mit 87 Minuten zu kurz ist, um sich darüber hinaus in Grundsätzliches zu vertiefen. Jeder Lebenslauf bekommt im Schnitt elf Minuten. Obszön wenig. Man erfährt weder, über welche Wege die Frauen nach New York gelangt sind, noch, wie sie sich dort über Wasser hielten oder ihre oft ebenfalls Wiener Schmäh redenden Gatten fanden.

Hätte der Film mit konzeptueller Strenge versucht, anhand der Erinnerungen der Frauen das zu rekonstruieren, was sie als Kinder am eigenen Leib erfuhren – das Durchschlagen des Antisemitismus in Österreich –, wäre das Auslassen biografischer Informationen vielleicht nicht weiter schlimm gewesen. Nicht zuletzt verweist „Vienna’s Lost Daughters“ mit seinem Verzicht auf Archivmaterial und mit seinen Bildern von der Rückkehr der Protagonistinnen nach Wien, in die verlorene Heimat – an den Ort, an dem sie sich „erinnern“ – ja auf Claude Lanzmanns „Shoah“. Doch wo Lanzmann seine Protagonisten explizit nicht als „Überlebende“ interviewte, nicht als Privatpersonen, sondern als Zeugen, als Träger wichtiger Informationen über das Tötungssystem der Nazis, da interessiert sich „Vienna’s Lost Daughters“ in New York sogar noch für das Haarspray der Damen.

Die Übertragung familiärer Traumata über Generationen hinweg – der andere Komplex, der für Tiefgang hätte sorgen können – wird nur angerissen: In einer der erschütterndsten Szenen des Films sieht man Alice Winkler mit ihren beiden Töchtern und einer Enkelin auf einem Sofa sitzen. Eine der Töchter berichtet, genau wie ihre Mutter an Klaustrophobieanfällen in U-Bahnen und Aufzügen zu leiden, sie erklärt sich diese mit Erinnerungen, die offenbar sogar ihr, der Nachgeborenen, „in den Knocken stecken“. Die Enkelin, von Beruf Psychologin, attestiert ihrer Tante jedoch, sie rede sich das alles nur sein, sie sei „einfach neurotisch“. Mirjam Unger hält es nicht für nötig, hier mal nachzuhaken.

„Vienna’s Lost Daughters“ zeigt, dass es wenig Sinn hat, sich dem unvorstellbarsten Verbrechen der Menschheit ohne Fokus und mit Formathörigkeit auf gängiger Kino- und TV-Länge zu nähern. Die österreichische Produktionsfirma Mobilefilms informiert, zwei Fernsehjournalistinnen, Sonja Ammann und Lisa Juen, hätten das „Thema“ zunächst anrecherchiert, die Regisseurin Mirjam Unger sei dann später engagiert worden, um ihn zu „machen“. Genau das sieht man „Vienna’s Lost Daughters“ an. Als Komödchen über rüstiges Rentnern in New York mag der Film funktionieren, irritierende O-Töne wie „In Wien wäre mein Leben bestimmt nicht so schön gewesen wie hier“ passten dann sogar ins Bild. Eine gelungene Dokumentation über das Nachwirken dessen, was diesen acht Frauen und ihrem Volk vor siebzig Jahren angetan wurde, ist der Film nicht. JAN KEDVES

„Vienna’s Lost Daughters“. Regie: Mirjam Unger, Dokumentarfilm, Österreich 2007, 87 Min.