ausgehen und rumstehen
: Meist ist Liebe ein zu großes Wort für den Wunsch nach Geschlechtsverkehr: Berliner Sehnsucht

Touristentrupps, überall besetzte Sitzplätze, gleichgültig, ob vor dem Eckcafé mit Rauchverbot, dem alten Punkladen aus den Achtzigern oder dem türkischen Süßigkeitenladen. Halden von entkernten Sonnenblumenschalen liegen auf dem Boden. Ein ungeniert auf den Gehsteig urinierender Pudel. Überholprobleme beim Gehen. Herumfahrende Autos mit heruntergekurbelten Seitenfenstern, aus denen kleinlautes Lamentieren oder Flamencomusik schallt. Ein normaler Abend an einem Wochenende in der Oranienstraße.

Sichtlich entspannt ging ein junger Mann in Bundfalthosen mit einem Tablett an den Gehsteigplätzen vorbei. Er hat es verstanden, sich von überflüssigen Freunden und heruntergekommenen Verwandten zu befreien, man sah es ihm an. Versöhnt mit dem Leben, versöhnt mit den Koksern aus seiner Vergangenheit blickte Kellner Fabian in die Augen der Gespenster, die hierher in die „Luzia“ kamen und einen Drink bestellen wollten, ein Bier oder einen Cuba Libre oder einen Tolstoi. Getrieben von Wehmut, getrieben von Coolness. Coolness oder Wehmut am Freitagabend. Die letzten Sommerabende wollen ausgenutzt sein, man ist in der Stimmung für Liebe. Berliner Sehnsucht. Aber Liebe kommt und geht, hier im freien Berlin, wenn das Leben prekär und provisorisch ist. Und meistens ist Liebe auch ein viel zu großes Wort für den bloßen Wunsch nach Geschlechtsverkehr.

Fabian serviert und denkt sich nichts. Nichts Gravierendes jedenfalls. Denken zieht nur weiteres Denken nach sich, denkt Fabian, und an Sommerabenden ist Denken nicht hilfreich. Fabian hat kein Problem mit seiner Vergangenheit. Kalt lächelnd serviert er zwei Getränke. Am Nebentisch küssen sich zwei Gepiercte. „Capitalism is organized crime“ steht auf dem T-Shirt einer TV-Produzentin, die sich eine Cola bestellt. Ihre Finger riechen nach dem Kondom von letzter Nacht. Jetzt halten sie ein Glas mit einer auf den Rand gesteckten Zitrone.

Szenenwechsel: Im „Bateau Ivre“ riecht es nach Schweiß, die Betreiber des Ladens haben sich dank gut laufender Außengastronomie doch fürs Rauchverbot entschieden. Es ist trotzdem voll. Zwei Frauen halten sich gegenseitig die Tür auf. Loretta und ich setzen uns nach draußen. Ausgehen und Rumstehen ist eine Lüge, sage ich, jedenfalls für mich, denn eigentlich gehe ich aus und sitze dann irgendwo herum. Die Zeiten, in denen ich noch in Clubs, am Rande von Tanzflächen herumgestanden habe, um unter Lichtorgeln Leute beim Tanzen zu betrachten und leer vor mich hin zu denken, sind jedenfalls vorbei. Und das Konzept der Stehkneipe, im von uns zurückgelassenen Köln sehr beliebt, hat sich in Berlin nie durchsetzen können.

Wir waren gestern auf einem Konzert, sagt Loretta. Stimmt, auf Konzerten steht man noch herum. Und nachher standen wir unter dem Zelt im Hinterhof, da, wo man rauchen darf. Das Rauchen wollte ich mir auch abgewöhnen, sage ich, das lax gehandhabte Rauchverbot ist nicht unbedingt hilfreich, ich habe mir jetzt meine eigenen Beschränkungen auferlegt. Und zwar? Ich rauche erst ab 20 Uhr. Bisher hat es bis auf zwei Ausnahmen geklappt. Im nächsten Schritt, zur nächsten Jahreszeit, schiebe ich die Sperrstunde auf zehn. Wenn ich bei zwei Uhr nachts bin, ist endgültig Schluss. Loretta lacht. An billige Tricks glaubt sie nicht.

Flache Körper ziehen vorbei. Es wird spät. Fabian hat noch einiges zu arbeiten. Abzutragen. Zu kaschieren. Aufzurechnen. Berlin ist groß, Berlin ist voll, die Oranienstraße hält mit Oranienburger und Schlesischer Straße, Simon-Dach und Castingallee locker mit. Keine Normalverteilung. Die Problemgespräche werden in mehreren Sprachen geführt. RENÉ HAMANN