Der Zerrissene als Herrenmensch

„Der Deutscheste unter den Deutschen“: Die Stiftung Schloss Neuhardenberg zeigt in der Ausstellung „Was für ein Kerl!‘ Kleist im ‚Dritten Reich‘“, wie der Dichter, dem auf Erden nicht zu helfen war, im Nationalsozialismus komplett vereinnahmt wurde

Bereits im Jahr 1934 hat sich die Kleist-Gesellschaft arisiert. Freiwillig „Hätte Kleist auch Selbstmord begangen, wenn er SS-Offizier gewesen wäre?“

VON TIM CASPAR BOEHME

„Heinrich von Kleist – unser Kleist!“ Der Satz an der Stirnwand des Kavaliershaus von Schloss Neuhardenberg könnte als Motto kaum treffender sein. Vordergründig bekundet die Schlagzeile der Frankfurter Oder-Zeitung aus dem Jahr 1936 den Stolz der Stadt auf ihren berühmten Sohn, zugleich bringt sie den Status des Dichters im „Dritten Reich“ auf eine Formel. Wie sehr Kleist als Held der Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde, lässt sich in der Ausstellung „Was für ein Kerl! Kleist im ‚Dritten Reich‘“, die von der Stiftung Schloss Neuhardenberg und dem Kleist-Museum Frankfurt (Oder) konzipiert wurde, nachvollziehen.

Eine Vorbildfigur der Nazis sieht eigentlich anders aus. Wer die Ausstellung betritt, erblickt, falls die Augen gut genug sind, als erstes Exponat das einzige authentische Bild des Dichters. Die Miniatur zeigt eine zarte, knabenhafte Gestalt. Eingefasst in eine Stellwand und von kleinen Spiegeln umringt, scheint der Dichter in dem Guckkasten fast zu verschwinden. Einen Herrenmenschen kann man auf dem Gemälde beim besten Willen nicht erkennen.

Doch die Nationalsozialisten haben es geschafft, aus dem zerrissenen, unsteten, zunehmend verzweifelten Klassiker eine Ikone des Deutschtums zu zimmern. Kleist wurde nicht nur regelmäßig an deutschen Theatern, sondern sogar auf „Reichsautobahnbühnen“ vor dankbaren Arbeitern gespielt, die sich beim „Zerbrochenen Krug“ vom Straßenbau erholten. Georg Minde-Pouet, Vorsitzender der Kleist-Gesellschaft bis 1945, konnte schon im Jahr 1935 verkünden: „Kleist – damit ist nicht zuviel gesagt – ist zum Klassiker des national-sozialistischen Deutschland geworden. Der Deutscheste unter den Deutschen.“

Ein Jahr zuvor hatte sich die Kleist-Gesellschaft freiwillig arisiert. „Warum gerade Kleist?“ Mit dieser nahe liegenden Frage wandte sich Kuratorin Caroline Gille bei ihrer Recherche an einen Kleist-Biografen. Die Antwort, wenn auch „rhetorisch verklausuliert“, habe gelautet: „Wer denn sonst?“ Vermutlich sei dies die einzig mögliche Antwort auf die Frage, vermutet Gille, „weil man sie nicht genauer begründen kann“.

Spuren der feindlichen Übernahme Kleists sind bis heute zu finden. Selbst der Grabstein am Kleinen Wannsee wurde 1936 von den Nationalsozialisten ersetzt und fünf Jahre später mit einer neuen Inschrift versehen. Seitdem steht der Stein unverändert an der Todesstelle Kleists – ohne einen Hinweis auf dessen Geschichte. Der unscheinbarere Originalstein ist in der Ausstellung zu sehen.

Dass Kleist nicht nur instrumentalisiert, sondern bei Bedarf auch frisiert wurde, zeigen die Abwandlungen seiner Texte zu Propagandazwecken. Auf dem Plakat „In den Staub mit allen Feinden Groß-Deutschlands!“ von Hans Schweitzer schlägt eine Riesenfaust die Vertreter gegnerischer europäischer Nationen wie England oder Frankreich zu Boden. Schweitzer, der sich als Künstler nach dem Thorshammer „Mjölnir“ nannte, verwendete für diese Arbeit ein Zitat aus dem „Prinz von Homburg“, das sich indes gegen die Feinde Brandenburgs richtete. Für einen „Wochenspruch der NSDAP“ aus dem März 1939 musste Kleist sogar namentlich herhalten: „Solang ein Feind noch in Germanien trotzt, ist Haß mein Amt und meine Tugend Rache!“ Die Abwandlung der Verse aus der „Hermannsschlacht“ ist so geringfügig wie perfide. Im Original beginnt das Zitat: „Ich will die höhnische Dämonenbrut nicht lieben / So lang’ sie in Germanien trotzt?“

Noch obszöner als die plump propagandistischen Anverwandlungen Kleists wirken manche der unauffälligeren Dokumente der Ausstellung. So widmete sich eine Dissertation aus dem Jahr 1938 dem Thema „Das Fragmentarische bei Kleist und Hölderlin als rassenseelischer Ausdruck“. Sogar Kleists Selbstmord wurde ideologisch umgedeutet. „Kleists Tod als politische Tat. Eine Abrechnung“ betitelte der Reichsdramaturg Rainer Schlösser einen Artikel im Hamburger Tagblatt. Und wer im Jahr 1944 in Schleswig-Holstein Abitur machte, musste unter anderem die Frage beantworten: „Hätte Kleist auch Selbstmord begangen, wenn er SS-Offizier gewesen wäre?“

„Es ist, im negativen Sinne, schon sehr beeindruckend, wie stark sich ein Autor vereinnahmen lässt“, fasst Wolfgang de Bruyn, Direktor des Frankfurter Kleist-Museums, die Annektierung Kleists im Nationalsozialismus zusammen. Der Recherche eines ehemaligen Mitarbeiters de Bruyns, Martin Maurach, verdankt die Dokumentation viel. Im Kleist-Museum selbst geht es vor allem um die Rolle der Kleist-Gesellschaft im „Dritten Reich“.

Für de Bruyn ist die Ausstellung überdies Gelegenheit, auf eine ganz andere politische Frage hinzuweisen. Die Kultusministerin des Landes Brandenburg, Johanna Wanka, hatte im vergangenen Jahr die Erweiterung des Kleist-Museums als die „nächste große Baustelle“ im Lande angekündigt. „Daran möchten wir sie erinnern“, so de Bruyn. Er hofft, dass bis zum Kleist-Jubiläum im Jahr 2011 wenigstens der Rohbau steht. Die instruktive Beschäftigung mit der Rezeption des Dichters, die Erste ihrer Art, ist als Empfehlung für das Museum bestens geeignet.

„‚Was für ein Kerl!‘ Kleist im ‚Dritten Reich‘“, Stiftung Schloss Neuhardenberg, Kleist-Museum Frankfurt (Oder), bis 23. November 2008