Juhu, die Berliner Eckkneipe stirbt aus

DENKMALSCHUTZ Anstelle der einstmals bis zu 20.000 Eckkneipen gibt es heutzutage weniger als die Hälfte, und viele der verbliebenen werden alsbald schließen. Das ist kein Grund zur Trauer, wie einige Nostalgiker meinen

VON JÖRG SUNDERMEIER

Wir lesen es wieder und wieder: Die Berliner Eckkneipe geht unter. Das ist nicht nur eine hohle Behauptung. Tatsächlich gibt es anstelle der einstmals bis zu 20.000 Eckkneipen heutzutage weniger als die Hälfte, und viele der verbliebenen schließen alsbald. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die zwei Stadthälften seit 20 Jahren massiv umgebaut werden, um eine gesamtdeutsche Hauptstadt darstellen zu können.

Zurzeit nämlich erfüllt Berlin die Ansprüche an eine Hauptstadt, die von Hamburg, München oder Leipzig aus formuliert werden, noch nicht. Noch merkt man Berlin allzu sehr an, dass diese Stadt, allem preußischen Geprotz zum Trotze, in erster Linie eine proletarische Großstadt ist. Und gerade die vielbesungene Eckkneipe ist Teil dieses proletarischen Erbes, das sich, anders als die Riesenwerke von Siemens, AEG und Borsig nahezu unverändert bis in die Gegenwart erhalten hat. Noch immer regieren dort Molle und Korn, der „Futschi“ ist vor einigen Jahren hinzugekommen, und da, wo ehemals der Schwerstarbeiter gegen seine Schmerzen antrank, sitzen heute der Arbeitslose und die Hartz-IV-Empfängerin und trinken gegen den Frust. Dennoch – die Eckkneipe scheint dem Untergang geweiht.

Der Autor Clemens Füsers und die Fotografin Gudrun Olthoff wollen in ihrem Buch „Letzte Runde?“ (Wasmuth Verlag, Berlin 2009, 160 Seiten, 15 Euro) nun dieser Eckkneipenkultur ein Denkmal setzen, indem sie diese in Wort und Bild dokumentieren. Olthoff ist durch Berlin gezogen und hat viele Kneipen fotografiert, oft ohne großen künstlerischen Anspruch, dafür aber mit Detailinteresse. Passanten finden sich vor den Kneipen abgelichtet, Wirte, Zecher. Füsers, der die Idee zu dem Buch hatte, schreibt dazu melancholische Texte über die untergehende, vielleicht schon untergegangene Welt. Man liest: „Die Kneipe ist für Millionen Menschen in aller Welt längst zum eigentlichen Zuhause geworden, Sinnbild für Einsamkeit und Geselligkeit, Heimat und Heimatlosigkeit, Gelassenheit und Ruhelosigkeit in einem.“ Er glaubt an dieses Klischee, zählt ja auch Bodegas und Bistros zu den Kneipen, wird aber am Ende seines Einleitungstextes richtig Stammtisch-deutsch: „Wenn in der Kneipe das Rauchen nicht mehr erlaubt ist, dann wird man wohl auch bald in der Kirche nicht mehr beten und im Bordell nicht mehr vögeln dürfen, dann werden die Zapfhähne geschlossen und dann gibt es bald statt ‚Noch ne Runde‘ die letzte Runde, und zwar für immer.“ Daher also weht der Wind. Füsers lobt bessere Zeiten, die er zuvor herbeierfindet, die er zwar für entbehrungsreich hält, in denen aber noch ordentlich gebetet wurde und in den Puff gegangen. Die Bilder, die Olthoff dagegen zeigt, sind weniger breitbeinig, sondern eher traurig. Lustige Kneipennamen wie „Der Magendoktor“, „Berliner Bier-Akademie“, „Ossi-Tempel“ oder „Kaputter Heinrich“ finden sich an den Wirtshausschildern, zu denen allerdings oft traurige gastronomische Betriebe gehören. Die Gardinen adrett und spießig, welke Gewächse, Plastikclowns oder Militaria in den Auslagen, ein dümmlicher Kult ums Bier wird betrieben, die Fassaden bröckeln.

Trauert man diesen Kneipen wirklich hinterher? Zwei Beispiele: Vor einigen Jahren gab es in der Ossastraße in Neukölln eine Pinte mit dem wirklich interessanten Namen „Komma Safari“, ein Name, der mit Sicherheit bei 2,0 Promille erdacht wurde. Das „Komma Safari“, das so gern gemütlich sein wollte, fiel dadurch auf, dass, je mehr die Leute hinter der Bar getrunken hatten, desto lauter Schlager gespielt wurden. Die ruhigen Trinker aus der unmittelbaren Nachbarschaft, wie sie der Kneipenbewunderer so gern herbeifantasiert, fand man hier nicht, denn nahezu alle hatten schon der Lärmbelästigung wegen die Polizei gerufen. Am Ende machte das Etablissement pleite. Die fröhlichen Trinker, die es darin ja eine Zeit lang gegeben haben muss, sofern nicht der Wirt nur mit sich selbst soff, bedauerten den Untergang wohl kaum. Der Trinker weiß, man kann immer weiterziehen, und das sagenumwobene „Zum Bierbaum 2“ lag schon damals ebenso um die Ecke wie das Stübchen „Zum Donnerwetter“. Und wenn das Geld nicht mehr reichte, wussten Aldi und Lidl noch Rat.

Eine andere ebenso untergegangene Kneipe in Neukölln ist der „Blaue Affe“ am Kottbusser Damm, das bis zu seiner Schließung wohl das einzige erhaltene Lokal war, das Robert Walser und Kurt Tucholsky verewigt hatten, in dem jüngst noch Felicia Zeller oder Tom Schulz aufliefen, in dem legendäre Rockkonzerte vor 60-Jährigen gegeben wurden, und das schon in den 20er-Jahren all jene mit Suppe und Pferdebouletten erfrischte, die sich bei Karstadt am Hermannplatz die Nase plattgedrückt hatten, sich im Kaufhaus aber nichts leisten konnten. Diese Kneipe war bis zuletzt recht gepflegt, zumeist ältere Herren saßen oder standen an den sauberen Holztischen, wer krakeelte, der flog schnell hinaus. Die Jukebox war nicht zu laut, die Gespräche auch nicht, die Bedienung unaufdringlich. Dennoch war es kein Ort, an dem man sich wohlfühlte und es etwa als junge Frau lästig fand, zum Tanzen aufgefordert zu werden. Obschon Ecke Weserstraße gelegen, ging die Kneipe unter, als die zuvor so stille Weserstraße zu boomen begann. Das oben erwähnte „Donnerwetter“ übrigens ist heute das hippe „Ä“.

Was sucht der Trinker in jenen Kneipen, in denen er sich heimisch fühlt? Er sucht nicht Randale und nicht Geborgenheit, Alkohol sucht er und Bestätigung. Bestätigung dafür, dass sein Tun richtig ist. Es muss Schilder geben, die den Trinker darin bestärken, dass Suff richtig ist, Bilder, die belegen, dass Frauen gern mit Besoffenen knutschen oder deutsche Landschaften mit röhrenden Hirschen, Lieder muss man schließlich hören, die man lang schon kennt. Niemand interessiert sich wirklich für Fußball unter den harten Trinkern, aber das Betrachten eines Fußballspiels erlaubt ihnen Kameradschaftsgefühle, und gegrölt werden darf auch. Pflanzen und Holztafeln, auf denen die urdeutschen Werte beschworen werden, braucht es, auch in einer Kneipe für ehemalige 68er, denn Suff bringt Regress, und das Nationalgefühl holt alle Kinder zu sich. Dann muss die Kneipe unbedingt noch eine „kleine Kneipe“ sein, sogar dann, wenn sie die Ausmaße eine Bierhalle hat, denn das Kleine ist überschaubar und hilft bei der Ausgrenzung von Verstörendem. Im Kleinen fühlt sich der „kleine Mann“ wohl, der durchaus auch eine Frau ist, hier ist er unter sich. Der Stammtisch braucht eine Atmosphäre der Stickigkeit, um zu funktionieren. Daher muss auch das Speisenangebot urdeutsch sein oder zumindest auf Fleisch orientiert. Der Trinker verschlingt im Suff alles, was fettig und salzig ist, doch Döner, Burger oder Chinapfanne haben keinen Platz in der Kneipe, weil sie ungemütlich sind, undeutsch. Dass es der Heiße-Hexe-Hotdog auf die Kneipenspeisepläne geschafft hat, liegt daran, dass der Hotdog als eine Wurst im Brötchen anerkannt wird. Trinkende Vegetarier müssen eh draußen essen. Das ist die Eckkneipe, die wir verlieren. Man trauert um sie, doch warum? Zumal sie uns lang noch verfolgen wird – die neuen Eckgaststätten, die die trinkende Jugend versorgen, sind zwar noch keine Herde des Sexismus und der Xenophobie, doch lang wird das nicht auf sich warten lassen, der alkoholbedingte Regress wird auch hier das Seine tun. Noch gibt es keine „deutsche Küche“, noch ist dort ein DJ, wo einst die Jukebox stand, doch neue alte Gassenhauer werden schon freudig begrüßt. Und der Hirsch ist auch schon da, auf der Jägermeisterwerbung. Wir müssen uns fürchten – denn die Eckkneipe bleibt bestehen.