Niemand wird geschont

IDENTITÄTSPOLITIKSHOW Die US-Koreanerin Young Jean Lee gastiert mit ihrem Stück „The Shipment“ am Hamburger Thalia Theater

Ausgrenzung löst sich ab einer bestimmten Höhe des Einkommens auf

VON SIMONE KAEMPF

Sie war angekündigt, Young Jean Lee ist dann doch nicht selbst gekommen. Oder man hat sie nur nicht bemerkt. Wochenlang soll die koreanisch-amerikanische Regisseurin unerkannt ihre eigenen New Yorker Aufführungen von „The Shipment“ besucht haben, um direkte Reaktionen schwarzer und weißer Zuschauer einzufangen und weiter einzuarbeiten in diesen Theaterabend, den sie eine „black identity-politics show“ nennt.

Provokativ ist diese Show nicht, pointiert verdichtet allerdings schon. Mit Auslassungen, die Gesprächsbedarf provozieren. Fünf afroamerikanische Performer spielen den Abend, der formal den Weg von Tanz, Gesang, Comedy zu einer Upperclass-Cocktailparty im zweiten Teil nimmt. Die 1974 geborene Young Jean Lee benutzt in ihrer Arbeit Zuordnungen, die in Europa nicht viel anders funktionieren als in den USA: Identität hört nicht bei der Hautfarbe auf, kann dort nicht aufhören. Barack Obama hat dem zu größtmöglicher Klarheit verholfen. Während des Spätherbsts 2008, als er im Wahlkampf das „postrassistische“ Amerika ausrief, entstand Lees Arbeit, aus der man vor allem eine Schlussfolgerung über alltäglichen Rassismus ziehen kann: Der ist weit subtiler als das Schimpfwort „Nigger“.

„The Shipment“ funktioniert erst mal wie eine kleine Bildüberschreibung der schwarzen amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Schauspieler Prentice Onayemi bewegt sich zum Auftakt im Tanzstil des Monkey Hunch, der in den exotisch-hybriden Harlemer Nightclubs der 20er-Jahre Mode war: mit Gummigliedern und aufgerissenem Augenweiß. Dann verbreitet Jordan Barbour als Stand-up-Comedian politisch inkorrekte Witze über Weiße. Drei Schauspieler singen fürs Publikum, und schließlich wird in wenigen Szenen die Biografie eines jugendlichen Rappers erzählt, der als Drogendealer landet.

Während hier offen die Stereotypen ausgebreitet werden, die durch feine Ironie aber immer davor geschützt sind, etwas Wesentliches zu benennen, zerfallen im zweiten Teil die Gewissheiten. Es wird eine Art Theaterstück gespielt, in dem Gastgeber Thomas vier Arbeitskollegen zur Geburtstagsparty empfängt. Ein Wohnzimmerdesignambiente mit Sofagarnitur ist aufgebaut.

Stocksteife Unterhaltung

Die Unterhaltung schwankt zwischen Ernährungsfragen, Klatsch und privaten Indiskretionen. So stocksteif die Unterhaltung läuft, meint man, weiße Upperclass-Amerikaner zu erkennen, die ihre Wohlstandneurosen pflegen und sich Ignoranz gegenüber bestimmten Themen leisten können. Aber diese These lässt sich im gleichen Moment infrage stellen. Warum sollten Schwarze, die ihr Auftreten dem weißen akademischen Milieu angepasst haben, nicht genauso leben?

Beide Möglichkeiten bleiben nebeneinander stehen. Und auch im anschließenden Publikumsgespräch umkurven die Schauspieler die Festlegung, wen sie im zweiten Teil eigentlich gespielt haben. Diese Offenheit lässt Raum für Mutmaßungen und verweist darauf, dass die Wertung erst bei den Zuschauern entsteht, die von Young Jean Lee so gern belauscht werden. Der Abend ist in seiner Form smart verknappt und doch so überzeugend, auf dass er in Amerika mit Preisen ausgezeichnet wurde und auch in Europa bestens funktioniert. Beim Theaterspektakel Zürich und am Berliner HAU war Lees Arbeit bereits zu sehen. Auf das Gastspiel am Thalia Theater Hamburg im Rahmen der Lessingtage werden im Mai weitere in Wien folgen.

Aber alles ist böser gedacht als gemacht. Und niemand wird geschont. Mit entwaffnender Direktheit entwirft Lee das Bild des schwarzen Drogendealers, der damit protzt, alle Weißen abzuknallen. Oder des schwarzen Comedian, der wirklich jedes Vorurteil zum Witz macht. Im Gegensatz dazu steht die selbstgefällige politische Korrektheit des weißen Cocktailpartymilieus, die misstrauisch macht, weil alles Brisante ausgespart wird. Am Schluss befragt die Partygesellschaft sich dann allerdings selbst, ob sie sich anders verhalten hätte, wären Schwarze im Raum gewesen.

„Kommt drauf an, welche Art von Schwarzen“, lautet die Schlusspointe, mit der „The Shipment“ eine vorläufige Bestandsaufnahme der USA unter Obama macht: Eine Klassengesellschaft, in der sich Ausgrenzung ab einer bestimmten Einkommenshöhe auflöst und es nicht mehr darum geht, dass Weiße nicht mit Schwarzen klarkommen, sondern welche Weiße mit welchen Schwarzen klarkommen.