Der Aufsteiger

UMVERTEILUNG Im beeindruckenden Gefängnisfilm „Ein Prophet“ von Jacques Audiard wird das Geschäftemachen im Knast gelernt

Auch im Knast sind die Gewaltverhältnisse nach dem Mehrheitsprinzip organisiert

VON ANDREAS BUSCHE

Propheten müssen des Lesens und Schreibens nicht mächtig sein. Es reicht schon ein guter Draht zu einer höheren Instanz. Gott sprach zu Moses aus einem Dornbusch, Mohammed bekam die heiligen Worte durch den Erzengel Gabriel auferlegt. Die Gelehrten sind sich bis heute uneins, ob er das, was er da hörte, überhaupt selbst niederschreiben konnte. Die Exegese gilt in den Weltreligionen als Schlüssel zur Erkenntnis, im Islam überträgt sich die Bedeutung der Textarbeit sogar auf den Namen der heiligen Schrift selbst. Der Begriff Koran bedeutet so viel wie Rezitation.

Der Geist eines Toten

Der 19 Jahre alte Malik hat das Lesen und Schreiben nie gelernt, er ist auch alles andere als eine religiöse Figur – ein persönlicher Einflüsterer steht ihm in Jacques Audiards preisgekröntem Gefängnisfilm „Ein Prophet“ dennoch zur Seite. Ein dunkles Geheimnis verbindet die beiden: Malik hat seinen Mithäftling Reyeb getötet. Seitdem weicht ihm dessen Geist nicht mehr von der Seite.

Maliks Gabe ist keine göttliche Fügung, sondern Ausdruck einer verdrängten Schuld. Der Mord markiert für ihn in doppelter Hinsicht eine Transzendenzerfahrung. Der Neuling sichert sich den Schutz des korsischen Patrons César (Niels Arestrup) und wird damit in der streng tribalistischen Gefängnishierarchie zum Quereinsteiger. Gleichzeitig verleiht ihm Reyebs Anwesenheit seherische Fähigkeiten, mit deren Hilfe er seinen Einflussbereich innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern langsam ausweitet. Malik spricht sozusagen mit fremder Zunge, verfolgt seine persönlichen Interessen jedoch äußerst zielstrebig.

Der Regisseur Jacques Audiard beruft sich mit „Ein Prophet“ auf ganz unterschiedliche französische Kinotraditionen. Sein direkter Bezugspunkt ist das Gangsterkino der Siebzigerjahre à la Henri Verneuil und Jacques Deray; er verbindet diese Einflüsse mit Motiven Bressons (die asketische Strenge, die Frage nach Schuld und Moral, die Logik des Geldverkehrs) und überführt alles in die Formsprache jenes dringlichen Realismus, wie ihn die Kritik am neuen Gangsterfilm („Gomorrha“) in den letzten Jahren so schätzen gelernt hat.

Audiard gilt nicht erst seit „Lippenbekenntnisse“ und „Der wilde Schlag meines Herzens“ als Regisseur, der seinen Blick über die Grenzen eines Genres hinaus zu öffnen versteht. Im Fall von „Ein Prophet“ stellt das zunächst eine Herausforderung dar, weil der Film mehr als eine Stunde braucht, um seinen zentralen Handlungsort erstmals zu verlassen. Im Gegensatz zu aktuellen Tendenzen geht es Audiard aber auch weniger um eine Vielstimmigkeit in der Zeichnung eines Milieus als um eine Verschiebung der Blickachse. „Ein Prophet“ bleibt bis zum Ende ganz nah an seiner Hauptfigur dran.

Sozialer Vertrag gekündigt

Maliks Beziehung zu seinem Mentor César Luciani und seine Freundschaft mit Ryad folgt dabei noch weitgehend den Konstellationen des klassischen Gefängnisdramas. Reyeb hingegen kommt in diesem Triumvirat eine wichtige Funktion zu, und dieser zwischenmenschliche Konflikt ist es auch, der „Ein Prophet“ in seinen besten Momenten interessanter aussehen lässt als das großartig inszenierte Genrekino, das er im Grunde ist. Hier verleiht Audiard seinem Film wirklich gesellschaftliche Brisanz.

Denn der Mord an Reyeb kommt gewissermaßen der Kündigung eines sozialen Kontrakts gleich: Malik wird durch den Mord an einem anderen maghrebinischen Migranten mitten in das Machtzentrum der korsischen Mafia befördert. Die Korsen, das hat schon Asterix-Autor Goscinny sehr pointiert beschrieben, sind ein stolzes Völkchen voller Marotten.

In „Ein Prophet“ wird nun der alteingesessene korsische Mob mit den neuen Realitäten in französischen Gefängnissen konfrontiert. Dass die Gewaltverhältnisse auch im Knast nach dem Mehrheitsprinzip organisiert sind, realisiert César erst, als ihm ein Wärter die bisher gewährte Unterstützung mit Hinweis auf die zahlenmäßige Überlegenheit der arabischstämmigen Gefangenen versagt.

Gemäß den klassischen Genrevorbildern funktioniert auch „Ein Prophet“ außerhalb einer verbindlichen Moralität. Malik ist für Sarkozy-Frankreich, was Al Pacinos Tony Montana in „Scarface“ einst für Reagans Amerika verkörperte: der Vertreter einer rasch wachsenden gesellschaftlichen Minderheit, der für sein Recht, an den Umverteilungskämpfen des neuen Kapitalismus zu partizipieren, rücksichtslos einsteht.

Nur gut, dass Audiard mit Tahar Rahim für diese schwierige Figur ein so hübsches wie sympathisches Gesicht gefunden hat. Sein Malik hat sich seinen Erfolg aber auch hart erarbeitet. Das wirtschaftliche Einmaleins für seine Geschäfte eignet er sich direkt im Gefängnisunterricht an. Als wichtigste Lektion gibt ihm sein guter Geist Reyeb noch die Worte Mohammeds auf den Weg: Lies! Wenn er in der letzten Einstellung schließlich das Gefängnis hinter sich lässt, deutet die Kolonne schwarzer Limousinen im Hintergrund an, dass aus dem Prophet selbst ein Anführer geworden ist.

■ „Ein Prophet“. Regie: Jacques Audiard. Mit Tahar Rahim, Niels Arestrup u. a. Frankreich/Italien 2009, 155 Min.