Positiv, aber sorgenvoll

DIE JÜDISCHE DIMENSION Avi Primor, Sergey Lagodinsky, Anatoli Podolski und Micha Brumlik diskutierten in Berlin darüber, was der Epochenbruch von 1989/90 für die Juden Europas und Israels bedeutete

Nach dem Fall der Mauer hatten europäische und israelische Juden Vorbehalte

Es gibt eine Dimension der Ereignisse von 1989/90, die der Gedenkfeier-Mobilisierung des Jahres 2010 zum Trotz bislang nur marginale Aufmerksamkeit gefunden hat. Sie lässt sich in der Frage zusammenfassen, welche Bedeutung diese Zeitenwende für das europäische Judentum gehabt hat. Letzte Woche richteten drei Organisationen, der Zentralrat der Juden in Deutschland, das American Jewish Committee (AJC) und die Stiftung Erfahrung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) ein Symposion aus, das jüdische Wissenschaftler und Aktivisten aus ganz Europa und den USA vereinigte. Es wurde berichtet, analysiert, nach der Zukunft gefragt. Im Ganzen fiel die Bilanz positiv aus, allerdings vermischt mit sorgenvollen Untertönen.

Als nach dem Fall der Berliner Mauer das Tor zur deutschen Einheit aufgestoßen wurde, gab es aufseiten der Juden Europas und Israels sehr starke Vorbehalte. Man fürchtete, Großdeutschland würde wieder aufleben und man erwartete, dass die jahrzehntelange antiisraelische Propaganda in der DDR Wurzeln geschlagen hätte und auf ein vereinigtes Deutschland abfärben würde. Avi Primor, Exbotschafter Israels im Deutschland der 1990er-Jahre, erinnerte an die zweimalige Aufforderung des israelischen Premiers Schamir an Kanzler Kohl, doch bitte von der deutschen Vereinigung abzusehen.

Deutschland und die jüdischen Gemeinden

Andererseits wurde 1989/90 zu einer großen Chance. Für die Juden im sowjetischen Machtbereich öffnete sich die Möglichkeit, jetzt leichter in den Westen auszuwandern. Und endlich, nach 45 Jahren, konnten die ost- und ostmitteleuropäischen Juden darauf hoffen, für ihre Sklavenarbeit im Zweiten Weltkrieg und ihr geraubtes Gut Entschädigung zu erlangen. Der ehemalige US-Botschafter Bindenagel und der Rabbiner Baker vom AJC zeichneten den mühevollen Prozess nach, der wenigstens zu einer – eher symbolischen – materiellen Kompensation führte. Baker unterstrich, dass es in Polen bis heute kein Gesetz über Entschädigung oder Rückgabe jüdischen Eigentums gibt.

Zu einer besonderen Belastungsprobe des deutschen Verhältnisses zu Israel wurde der Wunsch vieler russischer Juden, ausgerechnet nach Deutschland zu emigrieren. Primor erinnerte sich, dass Israels Präsident Eser Weizmann anlässlich eines Deutschlandbesuches die Berliner Jüdische Gemeinde anherrschte, was sie eigentlich noch in Deutschland zu suchen hätte. Primor, der die positive Reaktion der deutschen jüdischen Gemeinden auf die anlaufende russisch-jüdische Einwanderung kannte, fragte Weizmann, ob er denn Deutschland erneut „judenfrei“ sehen wolle. Weizmann blieb bei seiner Meinung, die russischen Juden seien gar keine Flüchtlinge, denn sie hätten bereits eine Heimat – Israel. Zur Entwicklung der deutschen jüdischen Gemeinden nach der russisch-jüdischen Einwanderung gab es eine bohrend selbstkritische Diskussion. Sergey Lagodinsky vom Präsidium der Berliner Jüdischen Gemeinde schilderte die gegenseitige Fremdheit der „Alteingessenen“ und der „Neuankömmlinge“.

Er beklagte die mangelnde Bereitschaft, sich auf die Ängste und Hoffnungen der russischen Juden einzulassen. Während die zweite Generation der Eingewanderten definitiv angekommen sei und keinerlei Schwierigkeiten mit der Integration habe, müsse man die erste Generation als „verlorene“ bezeichnen. Sie hätten nie die Möglichkeit gehabt, gemäß ihren Fähigkeiten zu leben.

Wie sieht die heutige Lage der Juden in Europa aus? Einen Pol nahm die Schilderung des ukrainischen Wissenschaftlers und Aktivisten Anatoli Podolski ein. Die Schwierigkeiten der jüdischen Gedächtnisarbeit mit der ukrainischen Staatsmacht kulminierten, so Podolski, in der Auseinandersetzung mit dem offiziellen Gedächtniskult, der den nationalistischen und antisemitischen Heroen des vergangenen Jahrhunderts gilt.

Der andere Pol wurde von dem Erziehungswissenschaftler und taz-Autor Micha Brumlik eingenommen. Er diagnostizierte zwar neben den alten auch die neuen Formen des Antisemitismus, der von islamistischen Fanatikern auch in Deutschland verbreitet würde. Was aber die jüdischen Gemeinden in Deutschland mehr bedrohe, sei ein intellektueller Mangel. Es fehle an einer zukunftsweisenden, über die Erinnerung an den Holocaust hinausgehenden jüdischen Idee.

Dem stimmte auch der polnische Publizist Konstanty Gebert zu. Nur die Schoah im Blick und etwas Folklorismus nach „The fiddler on the roof“ zu haben, das sei nicht nur abstoßend, sondern auch selbstmörderisch.

CHRISTIAN SEMLER