Stabilität und Turbulenz

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN: Was hat das Meer im Arbeitsamt zu suchen? Die Autoren von „Widerspruch“ und „Ilinx“ stellen richtige Fragen

Ramón Reichert untersucht die „Meteorologie der Finanzmärkte“ und erklärt die „Turbulenz“ zur „master metapher“

Während das globale Finanzsystem derzeit alles andere als stabil zu sein scheint, ist eine lokale Institution unerschütterbar: der Staat. Die aktuelle Nummer der Schweizer Zeitschrift Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik nimmt dies zum Anlass, sich im neusten Band das Verhältnis von „Staat und Krise“ genauer anzusehen. Die Krise werde heute in ihrer Bewertung um eine entscheidende Dimension beschnitten, da sie längst nicht mehr als systemische, sondern als eine reine Finanzkrise angesehen werde, so der Ausgangspunkt. Trotz neuer Gestaltungsmöglichkeiten habe sich kein politischer Paradigmenwechsel ereignet: „Wider jegliche Rechts- und Sozialstaatlichkeit handeln Regierungen im Verbund mit dem Finanzkapital nach dem Prinzip sozialer Ungerechtigkeit: Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“, heißt es im Editorial.

Der Band versammelt wichtige Gegenpositionen zur Verharmlosung der Krise und zum Jubel über das Sinken der Arbeitslosenzahlen, die durch subventionierte Kurzarbeit beschönigt werden. Hans Jürgen Bieling untersucht Brüche und Kontinuitäten des marktliberalen Diskurses, Elmar Altvater diskutiert die Chancen des ökologischen Keynesianismus. Birgit Sauer konstatiert eine Reorganisierung der staatlichen Patriarchalität angesichts des neuen Aktionismus des Staates: „Frauenarbeitsplätze, z. B. beim Versandhauses ‚Quelle‘, wurden nicht als ‚systemwichtig‘ qualifiziert“ – im Gegensatz zu Männerarbeitsplätzen in der Autoindustrie. So wichtig die Akzentuierung des Dienstleistungssektors ist, in dem Frauen die weitaus größere Gruppe der Beschäftigten stellen, so muss doch auch in Rechnung gestellt werden, dass nun einmal mehr Leute Auto fahren wollen als ein Produkt aus dem Quelle-Katalog, Relikt aus Wirtschaftswunderzeiten, bestellen.

Das Wetter an der Börse

Die Beiträge verwundern allerdings auch durch ihr heißes Katastrophenvokabular. Da ist die Rede von „zusammenbrechenden“ Industriezweigen oder „trudelnden“ Wirtschaftsbranchen. Cool und straight ideologiekritisch ist in dieser Hinsicht die erste Ausgabe der Zeitschrift Ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft. Ilinx ist interessiert an „riskantem nicht-drittmittelkompatiblem Wissen“, das in der Überkreuzung heterogener kultureller und wissenschaftlicher Strömungen zustande kommt. Unter dem Titel „Wirbel, Ströme und Turbulenzen“ widmen sich die Beiträge der sprachlichen Naturalisierung gesellschaftlicher Prozesse und Ereignisse oder physikalischen Metaphern, die in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft offenbar werden.

Ramón Reichert untersucht die „Meteorologie der Finanzmärkte“ und erklärt die „Turbulenz“ zur „master metapher“ im Wirtschaftsjournalismus, die in Zeiten unbeständiger Marktdynamiken hohe Popularität in der Börsenberichterstattung erlangt. Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Metapher des Barometers im Finanzdiskurs, als der Publizist William Peter Hamilton das „Börsenbarometer“ einführte, das die Entwicklungen erklären und voraussehen sollte: „In den breit gestreuten Mediendiskursen zur Meteorologie der Märkte galt für ihn die Börse als Barometer für die allgemeine ‚Wirtschaftslage‘ mit ihren Auswirkungen auf die politische ‚Wetterlage‘.“

Simon Roloff hingegen beschäftigt sich mit der Verwaltungstechnik des Arbeitslosenamts, das das zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Ufer tretende „Meer von Arbeitslosen“ in Schach halten sollte. Bautechnische Maßnahmen, Meldekarte, Stempelzeichen – all das organisierte den Betrieb der ersten Institution für Arbeitslosigkeit. Nur in Ensemble kann „das Arbeitsamt als Traum einer Gesellschaft unwägbarer Ströme von ihrer eigenen Versicherung lesbar sein“, rekapituliert Roloff abschließend standfest. PHILIPP GOLL

■ „Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik“. Thema: Staat und Krise, Nr. 57 (2. Halbjahr 2009), 16 € ■ „Ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft“. Thema: Wirbel, Ströme, Turbulenzen, Nr. 1 (2009), 14 €