Schiere Freude

AUSGRABUNG Die Kurzfilmtage Oberhausen widmen sich dem frühen Kino, handkoloriert, von Musikern begleitet und sehr unterhaltsam

Der Blick in die vergangene Epoche könnte sich als Blick in die Zukunft herausstellen

VON DIETMAR KAMMERER

Das frühe Kino ist ein unbekannter Kontinent. Namen wie Griffith, Eisenstein oder Murnau sind zwar bekannt. Aber diese standen nicht am Anfang, sondern folgten auf eine Generation von Filmemachern, die weitgehend vergessen sind. Obwohl der größte Teil der Filmproduktion aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verloren ist, lagert in Filmarchiven immer noch eine Unzahl von Bildern, die entdeckt werden können – man muss sie nur aus ihrer Tiefe befreien.

Ein Sonderprogramm der Kurzfilmtage Oberhausen hat dieses Bergungsprojekt unternommen und in zehn Programmen filmische Fundstücke aus der Zeit vor 1918 präsentiert. Die leitende These der Kuratoren Mariann Lewinsky und Eric de Kuyper: Das Kino der Anfangsjahre hatte mit dem, was danach folgte, kaum etwas gemein. Was nicht nur daran lag, dass es ein Kino der kurzen Form war. Sondern vor allem daran, dass es eine Form populärer Kultur war, die sich noch nicht gefunden hatte. Daher durfte, konnte und wollte das frühe Kino alles.

Neugierde auf die Welt

Angetrieben von einer offenbar unstillbaren Neugierde auf die Welt, war die schiere Tatsache des Filmens oft bereits spektakulär genug. Man filmte Plätze und Straßen der eigenen Stadt mit demselben Staunen wie weit entfernte, exotische Schauplätze. Eisenbahnfahrten wurden zu „Phantom Rides“, wenn eine Kamera an der Spitze des Zuges angebracht wurde. Aus dieser Perspektive wurde jede Landschaft spektakulär.

Dass das frühe Kinopublikum schreiend von den Sitzen geflüchtet sei, wenn ein Zug auf der Leinwand angerollt kam, ist allerdings nichts als eine bis heute wirksame Legende, in die Welt gesetzt vermutlich von Kinobesitzern, die ihren Umsatz steigern wollten. Vor allem zwei Tatsachen über das frühe Kino wurden im Sonderprogramm deutlich: Erlaubt war, was gefällt. Und der sogenannte Stummfilm war weder tonlos noch schwarz-weiß.

Tatsächlich war der größte Teil filmischer Produktion farbig. Die schwarz-weißen Positive wurden Bild für Bild in einem aufwändigen Verfahren von Hand nachkoloriert oder verschieden eingefärbte Projektionen auf der Leinwand übereinander projiziert. Keine Filmvorführung kam ohne Musik aus, Musiker improvisierten vor der Leinwand. Das Oberhausener Programm begleitete der Filmmusiker Donald Sosin mit Klavier, Synthesizer, Flöte oder Gesang. Wie Sosin berichtete, war es früher denkbar, dass vor einer dunklen Leinwand eine Stunde musikalischer Unterhaltung gegeben wurde, die dann nahtlos in die Filmvorführung überging. Manchmal saß der Klavierspieler nicht im Saal, sondern in einem Raum nebenan, in dem getanzt wurde. Manche Kinobesitzer engagierten eigens Spezialisten für Geräuscheffekte: für Feuerwehrsirenen, hupende Autos oder Hundegebell.

Ein Grund, dass das frühe Kino bis heute unterschätzt wird, sehen die Kuratoren darin, dass die Filme, die es zeigte, als Filme unfertig sind. Der einzelne Film war Teil eines umfassenderen Programms, in den Filmpausen betraten Musiker, Akrobaten oder Varietékünstler die Bühne. Kino war ebenso Aufführung wie Vorführung.

Handzettel zum Verständnis

Um einen Film verständlich zu machen, wurden zuweilen Handzettel mit Erläuterungen ausgeteilt. Was auf der Leinwand geschah, war dann von der Last der Erzählung befreit und konnte sich ganz der Sensation, der Prominenz der Figuren oder der schieren Freude an der Bewegung hingeben.

Das frühe Kino war im eigentlichen Sinne populär. Es lockte mit Lokalaufnahmen vor Ort sein Publikum an mit dem Versprechen, dass dieses sich selbst auf der Leinwand entdecken kann. Das zentrale Versprechen: Ihr werdet unterhalten. Im Film „Tontolini ist traurig“ besucht die melancholisch gestimmte Hauptfigur ein Theater (zu tragisch), einen Zirkus (zu gewalttätig), um erst im Kino befreit lachen zu können – über sich selbst, wie er auf der Leinwand Schabernack treibt.

So könnte sich dieser Blick in eine vergangene Epoche als Blick in die Zukunft herausstellen – schließlich sind aktuelle Blockbuster von „Avatar“ bis „Transformers“, sind 3-D-Bilder, Surround-Sound und digitale Trickeffekte nichts anderes als genau dies: das Versprechen, ein Kino anzubieten, in dem man sich verlieren kann. Nur, dass man die Story nicht mehr auf Handzetteln verteilen muss. Die würde bei den meisten Blockbustern schließlich bequem auf ein Kinoticket passen.