Fetter Referenzrahmen der Krise

RELEVANZ Den Kapitalismus kann derzeit jeder kritisieren. Aber das Berliner Theatertreffen zeigte: Das Theater erweist sich in der Krise als besonders wach – zur Freude der Zuschauer

Überhaupt, die Schauspieler – sie wagten und gewannen viel bei diesem Treffen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Es ist selten, dass die Welt so dem Theater zuarbeitet. Vor beinahe einem Jahr kamen Elfriede Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“, „Liebe und Geld“ von Dennis Kelly und Christoph Marthalers „Riesenbutzbach“ in Köln, Hamburg und Wien heraus, die sich beim gestern zu Ende gegangenen Theatertreffen in Berlin, flankiert noch von „Der goldene Drache“ und den „Schmutzigen, Hässlichen und Gemeinen“, zu einem Panorama der Finanzkrise und ihrer Verlierer fügten. Man könnte beinahe vergessen, wie oft zuletzt dem Theater Selbstbezüglichkeit und mangelnde Relevanz vorgeworfen wurde. Ist das die berühmte Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet die Krise der Kunstform Theater solch einen fetten Referenzrahmen beschert?

Kommentieren die Stücke die Ereignisse oder kommentieren die Ereignisse die Stücke? Nicolas Stemann, der Jelineks „Kontrakte“ wie eine großangelegte, häufig sich verändernde Textbaustelle konzipiert hat, kündigt zu Beginn der Berliner Aufführung an, sich für letztere Lesart entschieden zu haben. So viel Relevanz auf der Bühne macht eben ein wenig größenwahnsinnig. Ein Overheadprojektor wird mit neuesten Nachrichten zur Rettung des Euro gefüttert, während der Text sich spiralförmig immer tiefer in den Strudel von Krediten, Schulden, Forderungen schraubt.

Für die Aufführung beim Theatertreffen hat Jelinek weiter an ihrem Stück geschrieben; und Stemann, der als Moderator und Bandleader mit seinem Ensemble von Musikern und Schauspielern agiert, spricht das Festivalpublikum sehr persönlich an. „Wilmersdorfer“ (nach dem Stadtteil, wo das Haus der Berliner Festspiele liegt) nennt er die Berliner hartnäckig; mitten im Stück muss das Publikum Geld nachschießen, sonst geht es nicht weiter. Für einen Zaubertrick, bei dem Geld verbrannt wird, um sich zu vermehren, wird ein 100-Euro-Schein gebraucht, das klappt in Hamburg, na gut, in Berlin bekommen sie nur 20 Euro. Die Vermehrung klappt übrigens nicht. Überrascht einen hier nicht, aber bei Banken schon?

Im goldenen Tresor

Jeder Zuschauer, der schon einmal dem Anlageberater seiner Bank zugehört hat, findet sich wieder in Jelineks Oratorien. Sie wendet die Worte der kaufmännischen Sprache so lange, bis sie ihre Konstruiertheit offenlegen, bis alle diese Vokabeln so doppeldeutig scheinen wie „verrechnen“ und „versprechen“. Haben wir uns eben verrechnet und versprochen, sagen ihre Bankangestellten achselzuckend.

Dass nichts mehr überschaubar ist, das ist der allgemeine Nenner, die neue Verbindlichkeit, die an die Stelle von Glauben, Ethos oder Verantwortung gerückt ist in den Stücken. Bei Stemann nimmt die Rede über die Chimären des Marktes immer wieder die Form einer Messe an, und wie in einer Apotheose verschwinden die Menschen am Ende in einem großen, golden ausgeleuchteten Tresor.

Auch bei Marthalers „Riesenbutzbach“ ist der Tresor ein magnetischer Anziehungspunkt, vor dem seine ihren längst zerstörten Träumen noch immer hinterhertaumelnden Figuren nach und nach mit Kreditwünschen erscheinen, ohne je Gnade zu finden. Man glaubt bei Marthaler die Möbel und die Mauern selbst weinen zu hören über ihre Verwaisung, Mensch und Ding verlieren ihre Verbindung, wo Status war, ist jetzt die Einübung in Scham angesagt. Der „Riesenbutzbach“ endet mit einer Modenschau für Krisenzeiten, einem Laufsteg des verlorenen Selbstwertgefühls.

In „Der Goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig ist es am Ende die Stimme eines Toten, die die Welt als Zusammenhang denkt, als geografischen zumindest. Er verblutete in der Küche eines Asia-Restaurants, weil er sich als Einwanderer ohne Papiere nicht zum Arzt traute. Die Kollegen entsorgen die Leiche im Fluss, und von dort treibt er durch alle Weltmeere zurück bis in seine Heimatstadt am Yangtse. Als eine Heimkehr und kostenlose Reise noch dazu, so beschreibt Schimmelpfennig, der sein Drama am Burgtheater Wien selbst inszeniert hat, den Weg der ausgebleichten Knochen.

Verblüffend ist sein Text nicht nur, weil er für die tragische Geschichte von Opfern der Globalisierung eine Sprachform gefunden hat, die nicht behauptet, aus der authentischen Perspektive der Migranten zu reden, sondern immer die Arbeit der Vorstellungskraft vorzeigt, sich in diese hineinzuversetzen. Das ist eine Empathieleistung, die die Schauspieler vorführen und dabei beinahe unbemerkt auch vom Zuschauer einfordern. Verblüffend ist dies außerdem, weil dieses offensichtliche Zuschauen beim Verfertigen der Rollen einen eigenen Witz hat. Nicht nur leihen die Schauspieler etwas von sich den Figuren her, sondern nehmen von denen auch etwas als Motor ihres Spiels. Mit dem Lachen wird zugleich ein Reservoir an Energie im Zuschauer aufgebaut und aktiviert, das er für die Empathie dann ausgeben kann.

Dass man durchweg so gut unterhalten wurde beim Theatertreffen dieses Jahr, war weder angesichts der Themen vorhersehbar noch aus der Spielzeit insgesamt ablesbar, die an den großen Theaterhäusern eher bescheiden verlief. Anrüchig im Sinne von „Kapitalismuskritik kann ja jetzt jeder, das ist leicht erkaufter Witz und schon affirmativ“ war der Unterhaltungswert der Stücke aber nicht. Eben weil die Ensembles und Regisseure Spielformen entwickelt hatten, die ungewöhnlich wach und denkbereit machten.

Überhaupt, die Schauspieler, sie wagten und gewannen viel bei diesem Treffen. Karin Beiers Kölner Inszenierung von „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“ ist eine Überhöhung des Mimetischen, die dem postdramatischen Misstrauen in die Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle einen Stinkefinger zeigt.

Ein kalter Blick auf die Ausgeschlossenen wurde der Regisseurin unterstellt: Lässt sie doch das Drama der 15-köpfigen Großfamilie im gläsernen Wohncontainer, die für etwas Geld für Bier und Zigaretten den Vater zum Krüppel machen – zwei Rollstuhlfahrer bringen mehr Sozialhilfe als einer –, fast wortlos ablaufen. Aber es ist nicht Gleichgültigkeit, die Beier mit der Ausstellung der übereinander Gepferchten erzeugt: Es ist ein kaum artikulierbarer Schmerz über so viel verdrängtes Leben, kleingehaltene Menschen, Horizontverengung. Nur weil man mit seinen Gefühlen für „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“ so wenig umgehen kann wie die mit ihren eigenen, heißt das nicht, dass man sie nicht hat. Beier stößt damit in neues Gelände vor.