Subjektiv werden

DOKUFILM Michael Mrakitsch konnte auch die eigene Ratlosigkeit zeigen. Das Berlin Documentary Forum entdeckt ihn neu

Man kann nicht sehen, was man nicht weiß. Aber man kann sagen, dass das, was die Bilder zeigen, die wahren Verhältnisse camoufliert

VON EKKEHARD KNÖRER

Michael Mrakitsch starb im März. Nun erlebt er nicht mehr, wie er beim Berlin Documentary Forum im Haus der Kulturen der Welt als Meister des Dokumentarfilms wiederentdeckt und gewürdigt wird. Zwei dominante Schulen des Dokumentarfilms gibt es. Die eine Tradition vertraut darauf, geduldig mit der Kamera dabei zu sein. Die entstandenen Bilder sollen möglichst für sich stehen, ohne Kommentar und ohne Musik. Die andere Schule ist die ganz entgegengesetzte, fernsehübliche: Hier wird keiner mit einem Bild alleingelassen. Vielmehr wird zu Tode erklärt und emotionalisiert, und das Bild, wo immer möglich, mit Musik aufgepeppt.

Verbotenes tun

Michael Mrakitsch gehörte keiner der beiden Schulen an. Er hat ausschließlich fürs Fernsehen mit strenger Geduld seine Filme gedreht. Dabei hat er etwas noch viel Verboteneres getan, als einfach zu schweigen: Er kommentiert, aber mit Sinn fürs Analytische wie Poetische. Er wird subjektiv, wenn es sein muss, und sogar offen ratlos, wenn es nicht anders geht.

Diese Ratlosigkeit, mit Wut gepaart, macht den 1975 entstandenen Film über die letzte französische Kolonie Djibouti – Titel: „Djibouti oder Die Gewehre sind nicht geladen – nur nachts“ – zum faszinierenden Dokument. Die Kamera fährt durch die Elendsviertel, und Mrakitsch erklärt, dass die Bilder, bunt wie sie sind, die Wahrheit nicht zeigen. Wieder und wieder rückt er die Grenzzäune ins Bild, die dafür sorgen, dass die Armen nicht ins reichere Stadtzentrum dringen. Wenn sie krank werden, krepieren sie, weil kein Arzt sich um sie kümmert, in ihren Hütten.

Man sieht Soldaten und Fremdenlegionäre, und Mrakitsch erläutert, dass die Prostituierten aus Äthiopien kommen, weil die genitalverstümmelten Frauen von Djibouti den europäischen Herrenmenschen nicht taugen. Indem er offen, aggressiv fast sein Scheitern einräumt, gibt dieser Film den Blick frei auf die Rückseite der üblichen auskennerischen Reportagen und die Oberflächlichkeit vieler Dokumentationen. Man kann nicht sehen, was man nicht weiß. Aber man kann sagen, dass das, was die Bilder zeigen, die wahren Verhältnisse eher camoufliert.

Etwas anders liegen die Dinge im Psychiatriefilm „Drinnen, das ist wie draußen, nur anders“ (1977). Hier gibt Mrakitsch den Patienten immer wieder das Wort. Er widerspricht ihnen auch da nicht, wo ihr Weltbild von der Normalvorstellung deutlich abweicht und wo sie sich die Wirklichkeit, um ihre Lage zu ertragen, mit der Anwesenheit allmächtiger Götter erklären. Er hört ihnen zu, er schenkt ihnen Zeit, bleibt geduldig, zeigt sie eingesperrt in ihre von Psychopharmakagaben gedämpfte Welt. Unvergesslich bleibt eine Szene, in der ein langjähriger Insasse, unendlich verlangsamt, gelähmt fast von den Medikamenten, einem Neuankömmling das eine und andere zu erklären versucht. Ein Moment der Solidarität unter Macht- und Hilflosen, den Mrakitsch stumm und durch eine Glasscheibe selbst macht – und hilflos beobachtet.

Gar nicht fernsehmäßig

Mrakitschs Solidarität mit den Eingeschlossenen ist bedingungslos. Und weil er sie zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte macht, werden sie auch in Momenten der Würdelosigkeit niemals vorgeführt. Und wieder ist Mrakitschs Kommentar ganz und gar nicht beruhigend oder sentimental. Er weitet vielmehr den Blick, beschreibt das Funktionieren der Institution, die Position nicht zuletzt des Arztes im Gesellschaftszusammenhang. Zitiert wird Foucault, wird Ronald D. Laing, der Kronzeuge der Antipsychiatrie. Zitiert wird aber auch Novalis, was nicht verwundert bei einem Regisseur, in dessen Filmografie man auch Filme über Goethe und Joyce findet.

Mrakitschs bekanntester und umstrittenster Film stammt aus dem Jahr 1982 und trägt den Titel „Shalom oder Wir haben nichts zu verlieren“. Für den Südwestfunk ist der Dokumentarfilmer in die Westbank gereist. Er beobachtet den israelischen Siedlungsbau um Hebron und er besucht das libanesische Palästinenserflüchtlingslager Burdsche el-Schimali, in dem ihm die Frauen das Leid klagen, das die ständige Raketendrohung über die Einwohner bringt. Bald darauf, während des Libanonkriegs, wird das Dorf tatsächlich beschossen und weitgehend zerstört. Mrakitsch ist wenige Monate später noch einmal zurückgekehrt und zeigt als „Nachtrag“ die Trümmer und die Menschen darin. Wie die Israelis die Palästinenser behandeln, das entsetzt und schockiert Mrakitsch. Er findet die Kaltblütigkeit der orthodoxen zionistischen Pioniere so „unbegreiflich“ wie die Schäferhunde, die Stacheldrahtzäune und die gegen die Palästinenser gerichtete Unterdrückungspolitik. Eindeutig nimmt er Partei, als Linker, der in der Westbank-Realität keinen Halt mehr findet für die bedingungslose Solidarität mit Israel, die die Geschichte jedem Deutschen gebietet. Alle wichtigen Fragen, die sich zu Palästina und Israel seit 1967 stellen, sind hier gestellt. „Shalom“ ist ein in seiner Einseitigkeit problematischer Film und leider so aktuell wie vor dreißig Jahren.

■ Vom 2. bis 6. Juni. Berlin Documentary Forum, Haus der Kulturen der Welt, Berlin