Die Musik ist ihnen über

UNEINDEUTIGKEIT Die Tanzcompagnie Hofesh Shechter mit „Political Mother“ auf dem Festival Movimentos in Wolfsburg

In der Bewegungssprache kommt Shechter auf Elemente zurück, die nahe am traditionellen Tanz Israels und einer gestenreichen Rhetorik liegen

Hofesh Shechter liebt es uneindeutig: Ist das nun die Karikatur eines Diktators oder eines Popstars, den Shechter an die Spitze einer Pyramide von uniformierten Trommlern und E-Gitarristen gesetzt hat?

Die Lichtdome aus den Scheinwerfern, die die Musiker nur manchmal aus dem Dunkel des Bühnenhintergrunds hervorholen, das unartikulierte Fauchen des Sängers und seine ruckelnden Gesten sprechen für eine Karikatur des Bösen. Die Wucht aber, mit der Shechter den zackigen Schlag der Trommeln und die alles verzerrenden Gewitter der Gitarren über seine Tänzer hinweg- und auf das Publikum zurollen lässt, zeugt von einem lustvollen Spiel mit der Ästhetik der Überwältigung und der Inszenierung von Hierarchien. Dass man sich, trotz aller Ironie in den überzogenen Gesten, dem treibenden Rhythmus nicht entziehen kann, das eben ist einer der Punkte, auf die es Shechter in seinem Stück „Political Mother“ anzukommen scheint.

Hofesh Shechter, 34, ist Choreograf und Komponist, der Tanz und Musik in ein inhaltlich, ja politisch äußerst aufgeladenes Verhältnis setzt. Er stammt aus Israel und lebt seit 2002 in England, nicht nur, aber auch, um dem israelischen Militärdienst zu entgehen. Das Festival Movimentos in Wolfsburg, das jedes Jahr sechs oder sieben große Tanzcompagnien einlädt, präsentiert Shechter zum zweiten Mal und wirbt für ihn als den neuesten heißen Scheiß aus England.

In Brighton kam das Stück vor zwei Wochen heraus und ist schon für eine Tournee durch Europa, Tokio, Seoul und Sydney gebucht. Ebenso wie die Musiker werden auch die Tänzer, fünf Frauen und sechs Männer, oft mit plötzlichem Licht aus dem Dunkel herausgehoben, manchmal in der Bewegung eingefroren: das wirkt dann wie ein Standbild aus einem amerikanischen Musical, bevor die Bewegung einsetzt und sich die Anmutung wieder verändert.

Nur selten ist den Tänzern ein entspanntes Verhältnis zu der Musik gegönnt, dann hören sie ihr einfach zu oder tanzen wie auf einem Rave. In den meisten Szenen hingegen nimmt die Musik sie in die Zange, und ganz gleich, ob ihre Bewegungen etwas von militärischem Drill, von Hypnose und Infiltration, von Ritual und Ekstase haben, immer ist die Musik ihnen über, verkörpert eine die Identität zusammenschweißende Macht und formt kollektive Figuren.

Andere Szenen evozieren Bilder der Flucht, wenn die Tänzer von beiden Seiten rennend aus den Kulissen stürzen, hin und her über die Bühne laufen, panisch, orientierungslos, bis ihr Bewegungsraum sich verengt auf einen kleinen Kreis. Manchmal glaubt man dann, auch unterstützt durch die Kostüme, Gefangene vor sich zu haben, einen Tanz im Lager, ein erzwungenes Amüsement im Ghetto. Oder auch, und da drehen sich die Vorzeichen der Deutung allmählich wieder um, eine Flucht in den Folkdance als letzten Ort der Vergewisserung der eigenen Identität.

Denn so unterschiedlich in der Qualität des Ausdrucks die einzelnen, hart aneinandergeschnittenen Szenen auch sind, in der Bewegungssprache kommt Hofesh Shechter dabei immer wieder auf Elemente zurück, die nahe am traditionellen Tanz Israels und einer gestenreichen Rhetorik liegen. Das Klein- und Kurzwerden der Schritte, die gebückten Rücken, das Kinn, das auf das Brustbein sinkt, gehören ebenso zu diesen Elementen wie die erhobenen Arme und wedelnden Hände, die oft so bittend und flehend und hilfesuchend erscheinen und nur gelegentlich in dieser Performance in einen weiteren und größeren Schwung übergehen, der den ganzen Körper in Drehungen und Hüpfer hineinzieht.

„Titel“, hat Hofesh Shechter gesagt, „können ebenso gut ein Schlüssel zum Stück wie auch eine Falle sein.“ Das passt sehr gut zu „Political Mother“. Wenn man, besonders als deutscher Zuschauer in Wolfsburg, auf den Gedanken kommt, in der faschistischen Ästhetik der Musikinszenierung Nazis zu sehen und in Tänzern Verjagte, die schließlich selbst zu Soldaten werden, dann ist man höchstwahrscheinlich in die Falle gegangen. So eindeutig auf Historie und Politik zu beziehen ist das Stück dann eben doch nicht. Wenn man hingegen im Überschreiben von Kontexten, im popkulturellen Spiel mit Inszenierungen von oben und unten, nach der Deutung sucht, kommt man der Sache wahrscheinlich näher. So oder so aber bleibt eine Sache gleich: Die Schatten der Vergangenheit sind lang und haben sich im Gedächtnis des Körpers ebenso festgeschrieben wie dort, wo man sie nicht vermutet hätte, im Massenevent eines Rave.

KATRIN BETTINA MÜLLER