Jeder sucht. Jede irrt. Doch alle finden die Antwort

ERSTLING Katrin Seddigs brillantes Romandebüt „Runterkommen“ erschließt uns einen ganz gewöhnlichen, sonderbaren Hamburger Alltag

All das schreibt sie abends auf, wenn sie aus der Kanzlei zurück ist und die Kinder schlafen

VON FRIEDERIKE GRÄFF

„Das wird immer geschönt“, sagt Katrin Seddig. Das ist schon mal ein typischer Katrin-Seddig-Satz. Im Klappentext ihres Romans steht nämlich, sie „studierte Philosophie in Hamburg“ – dabei hat sie das Studium nie beendet. Katrin Seddig ist nicht fürs Schönen. Deswegen gibt es in ihrem Roman „Runterkommen“ einen Mann, der nur deshalb mit einer Frau zusammenkommt, weil diejenige, an der er eigentlich Interesse hat, Berührungen nicht erträgt. Es gibt ein anderes Paar, das zusammen ist, weil sie von einer Eine-Nacht-Geschichte schwanger wurde. Es gibt eine Ehefrau, der die Kurve weg vom Alkohol nicht gelingt. Das klingt, als würde es für den Trübsinn dreier Dogma-Filme ausreichen, tatsächlich hinterlässt dieses Buch einen ganz fröhlich.

Es ist sehr erholsam, das Nicht-große-Glück als Lebensform willkommen zu heißen. Von daher ist der Titel des Romans „Runterkommen“ (Verlag Rowohlt.Berlin, 348 Seiten, 19,95 Euro) nahezu programmatisch, auf dem Buchtitel ist er über eine buschige Hecke geschrieben, die das Haus dahinter nahezu verdeckt. In Seddigs Roman versteckt sich Dani, eine junge Frau, die in einer Putzkolonne arbeitet und nicht angefasst werden will, hinter einem solchen Busch, um Erik, einen Anwalt, in seinem Mittelstandshaus zu beobachten. Das klingt konstruiert, doch liest man es bei Katrin Seddig, wirkt es auf eine sehr lebensnahe Weise sonderbar. Es mischen sich da sehr unterschiedliche Menschen auf ihrer Suche nach Nähe, Putzfrauen und -männer mit Anwälten und Anwaltsfrauen und Kneipenpersonal und polnischer Künstlerboheme. „Die Leute sollten sich mehr mischen“, sagt Katrin Seddig. „Es gibt so viele abgegrenzte Szenen, das sollte man ändern, das würde sich mehr befruchten.“

Sie sagt das mit der gleichen Lebhaftigkeit, mit der sie die Massivität der Schokoladentorte im Café im Hamburger Schanzenviertel würdigt. Sie ist eine schmale Frau mit Pferdeschwanz und von jener Mädchenhaftigkeit, die es schwierig macht, ihr Alter zu schätzen. Sie ist 40. „In meinem Alter mag man abends lieber sitzen“, sagt sie, wenn sie über die Kneipen spricht, in die sie abends geht. So etwas würden die Frauen in „Runterkommen“ auch sagen, und vermutlich ist es dieser Ton, dieses Bodenständige, versetzt mit einer gewissen Ironie, der „Runterkommen“ trotz all der Desaster von Alkoholismus über Demenz zu Schwerbehinderung zu einer aufmunternden Lektüre macht.

Katrin Seddig ist so pathosinkompatibel wie irgend möglich, das unterscheidet sie von den mittelwilden mittelalten Autoren, und ihr fehlt der Stallgeruch des West-Bildungsbürgertums, auch das unterscheidet sie von vielen Kolleginnen und Kollegen und erleichtert das Fortkommen im Literaturbetrieb nicht zwingend. Sie ist die älteste von drei Töchtern, der Vater Maurer, die Mutter Gärtnerin, aufgewachsen ist sie in einem Haus im Wald bei Strausberg, wo sie sich sie in Büchern aus der Dorfbibliothek versenkte: „Das war DDR: In jedem Dorf gab es eine Bücherei.“

Einmal können die Mädchen nicht zur Schule gehen, weil ein tollwütiger Keiler im Wald herumläuft, und wenn Katrin Seddig diese Geschichte erzählt, hört man sie wieder, diese Freude am Abstrusen wie sie auch in „Runterkommen“ durchscheint. Manchmal bordet es im Text über, aber es hindert sie nicht daran, genau hinzugucken. Und das nicht so Lustige zu sehen. Als sie selber Kinder bekam, sagt Katrin Seddig, habe sie sich gefragt, was es für ihre Mutter bedeutet habe, die eigene Tochter mit 12 Wochen in die Krippe zu geben. Etwas anderes war beim Drei-Schicht-Dienst nicht denkbar. „Aber es war keine schlechte Kindheit“, sagt Seddig.

Nicht denkbar war damals, mit den Kindern zu spielen, Eltern bekleideten und ernährten die Kinder, dann war Schluss. „Ich spiel nicht gern“, sagt Katrin Seddig. Sie kann auch mit dem Förderterror der Mittelschichtseltern wenig anfangen, und das mag mit ihrer Kindheit in der DDR zu tun haben, wo man weniger Möglichkeiten hatte, die Kinder für den großen sozialen Wettbewerb aufzurüsten. „Es sind echt nette Kinder“, sagt Seddig über ihre neunjährige Tochter und den elfjährigen Sonn. „Sie denken nicht, dass sich alles um sie dreht.“ Dazwischen klingelt ihr Handy. „Mausi, ich habe gerade keine Zeit“, sagt sie und das, was alle Eltern sagen: „Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Geh nicht mit Daniel ins Internet.“

Der Verlag hat eine schöne Stelle für den Buchrücken ausgesucht, die das Lakonische von Katrin Seddigs Schreiben zeigt: „Ich liebe dich, sagte er sanft, und unter seiner Sonnenbrille läuft ein Tröpfchen hinab. ‚Das tut mir leid‘, sagt sie nach einer kurzen Weile. Oder einer etwas längeren Weile – wie man es empfindet. Sie empfindet gerade nichts.“

Es ist schwierig zu sagen, ob das Lakonische bei Katrin Seddig eine Folge ihrer Biografie oder ihre Biografie eine Folge des Lakonischen ist. Sicher ist, dass sie viel begonnen und einiges nicht zu Ende gebracht hat. „Im Nachhinein hätte man Panik kriegen müssen“, sagt sie. „Aber ich war immer guter Dinge und ich habe mich selbst finanziert.“

Katrin Seddig war immer die Kluge in ihrer Familie, vielleicht hat es sie deshalb erst einmal aus der Bahn geworfen, als ihr etwas nicht gelang. Nachdem sie die Eignungsprüfung für die Kunsthochschule nicht bestand – sie hatte zeichnen wollen –, war es ihr lange gleichgültig, was stattdessen aus ihr werden sollte. Sie begann noch in der DDR Landwirtschaft zu studieren, weil man ihr die gute frische Luft nahelegte, dann Wirtschaft, dann Jura und schließlich Philosophie, nachdem sie wegen eines Mannes nach Hamburg gegangen war. Geblieben ist von all dem ein wenig Jura, weil sie noch heute in zwei Kanzleien jobbt. „Ich mach’ da Abfallarbeiten“, sagt sie, „gehe zum Gericht und zahle Geld ein, eigentlich gehe ich relativ viel durch die Stadt.“ Sie ist wirklich nicht fürs Schönen! Und sie praktiziert das, was sie gesellschaftlich fordert, sie bewegt sich in sehr unterschiedlichen Szenen: zwischen ihren Freunden, die kaum aus dem Bildungsbürgertum kommen, und ihrem Freund, der Arbeiter ist, zwischen einer Sozialrechtskanzlei und einer Immobilienkanzlei der feineren Art.

Eine Kanzlei kommt auch in „Runterkommen“ vor, die männliche Hauptperson ist Anwalt, erst in einer Karrieristenkanzlei, dann in einer rumpeligen Absteige. Aber letztendlich sind Berufe für Seddigs Figuren nur Jobs und nichts, in dem sie Erfüllung suchten, das tun sie bei den anderen. Sie finden sie sogar, nur anders als erwartet, bei anderen Menschen als gedacht und auf andere Art, vielleicht auch weniger innig als erhofft, Katrin Seddig beschönigt auch in diesem Fall nichts.

All das schreibt sie abends auf, wenn sie aus der Kanzlei zurück ist und die Kinder schlafen. Von dem Vater ist sie getrennt. „Ich bin kein disziplinierter Mensch“, sagt sie, wie viele disziplinierten Menschen es von sich behaupten. Das Schreiben findet sie mühsam, weniger bei den Kurzgeschichten, für die sie aus ihrem Alltag schöpft, als bei den langen Texten, bei denen sie etwas ganz Neues schafft. „Wenn noch nichts da ist, scheint es eine Frechheit zu sein, was man macht“, sagt Seddig und wirkt mit einem Mal sehr ernst.

Sie schätzt Updike, weil er seinen Figuren so nahe kommt und so viel Verständnis für sie hat und weil das, was er über das Kleinstadtleben schreibt, banal sein könnte, stattdessen aber genau ist. Und sie mag Fontane, weil man bei ihm merkt, wer wen liebt, ohne dass er das je explizit sagte. Was sie überhaupt nicht schätzt, ist Befindlichkeit, zumindest nicht die der Mitdreißiger, „die an etwas leiden, mir ist nicht klar, woran eigentlich“. Katrin Seddig scheint das ein Luxusproblem zu sein: „Mir ist diese zarte Befindlichkeit fremd, in der sie leben“, sagt sie. „Vielleicht ist es auch Neid.“ Aber der wirkt überschaubar. „Ich habe ein schönes Leben“, sagt sie ohne jegliches Aber.

Ein Leben, in dem sich das Schreiben seinen Weg bahnt, abends, und in dem der Verlag zu ihr kommt, statt sie zu ihm. Nach einer Lesung sprach sie jemand an, ob sie nicht veröffentlichen wolle, und als sie sich nicht meldete, rief er hartnäckig selbst zurück, vermittelte den Kontakt zum Verleger, der sich zweitberuflich als Literaturagent entpuppte und das Manuskript bei Rowohlt unterbrachte. Zwischendrin hat Katrin Seddig für ihre Erzählungen den Hamburger Förderpreis für Literatur gewonnen, das Geld konnte sie gut brauchen, und nun schreibt sie an einem neuen Roman. Es wird um eine Ehe gehen, aber jetzt muss sie erst mal los, zum Elternabend.