Kochrezepte hoch über dem Platz

HOLOCAUSTGEDENKEN Esther Dischereits Text-Installationen auf dem Eichengrün-Platz in Dülmen und dem Goethe-Institut in Jerusalem

„Nach Riga abgemeldet

– kein Eintrag

– keine weiteren Einträge abgängig“.

„Juden Räuberbanden Speisegesetze Kühlschränke“

„Im Winter galoppieren die Pferde durch die Stadt.“

„Die Kleider lagen auf der Straße verstreut. Alle ganz neu.“

VON KARIN SCHNEIDER/RITESINSTITUTE

Dülmen ist eine wohlhabende deutsche Kleinstadt; diesen Wohlstand hat sie auch ihren jüdischen Bürgerinnen zu verdanken, Geschäftsleuten wie den Gebrüdern Eichengrün, die 1939 vertrieben wurden. 2008 benannte der Bürgermeister der Stadt, Jan Dirk Püttmann, basierend auf dem Beschluss der Gemeindevertreter einen bisher nicht benannten Platz „Eichengrün-Platz“ zum Gedenken an die vertriebenen oder ermordeten jüdischen Bürger der Stadt.

Setzt sich jemand auf diesem bis dahin namenlosen Platz in einer bestimmten Position auf die Bank vor der Hecke, so ertönt zufällig eines von 55 „Klangzeichen“: Auf Archivrecherche basierende Textfragmente zu jüdischem Leben in Dülmen, kurze Geschichten, Montagen von Alltagsszenen, Namen von Juden und Jüdinnen, die in Dülmen gelebt haben; ein Gemisch aus Fakten und persönlichen Stimmen, Poesie und Archivmaterial; über einen Lautsprecher an einem Laternenmast beschallen von Zeit zu Zeit Kochrezepte den Platz, zusammengestellt von der Berliner Schriftstellerin Esther Dischereit.

Hintergrundinformation und die Möglichkeit, die einzelnen Geschichten und Fragmente am Stück zu hören, gibt es ausschließlich durch das Begleitbuch mit CD „Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus“, nicht jedoch vor Ort. Erinnern und Gedenken vermischt sich hier mit dem Alltagsleben, und das plötzlich, ohne Vorwarnung – was die Einzelnen damit tun, bleibt ihnen überlassen. Wer will, kann wahrnehmen, wie ganz persönliche, intime Geschichten als Angebote des Gedenkens auftauchen; wer will, kann ihnen nachgehen. Die Fragmente fügen sich jedoch nie zu einem ungebrochenen Ganzen zusammen, die Leerstellen und Abgründe bleiben.

Esther Dischereit hat das Konzept für ein Gedenken „jenseits eingefrorener Erinnerungsrituale“, wie Barbara Hahn in einem Essay im Begleitbuch schreibt, gemeinsam mit dem Wiener Komponisten Dieter Kaufmann entwickelt. Die Schriftstellerin, geboren 1952 in Heppenheim als Tochter einer jüdischen Mutter, die in Berlin den Nationalsozialismus überlebt hat, ist preisgekrönte Theater- und Hörspiel-Autorin, Lyrikerin, Erich-Fried-Preisträgerin 2009, aber auch politische Aktivistin und Konzeptkünstlerin. Ihre Bücher „Joëmis Tisch – eine jüdische Geschichte“ oder „Übungen, jüdisch zu sein“ gehen damit um, was es heißt, als Jüdin nach 1945 in Deutschland zu leben. Tatsache ist, dass es heute in Deutschland nicht mehr darum geht, „aufzuklären“; wer wissen will, kann wissen. Ausblenden ist selbst ein aktiver Teil von Erinnerungskultur.

Die Installation im öffentlichen Raum von Dülmen hat nun ihre Indoor-Schwester in Jerusalem. In den für eine Ausstellung sicherlich beengenden Räumen des Goethe-Instituts wurden Seiten des Buches „Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus“ als Textbildtafeln verwendet. Die grafische Gestaltung von Veruschka Goetz greift die Brüchigkeit und „Unlesbarkeit“ von Erinnerungen auf und übersetzt diese in die Typografie. Eine Hörstation am Eingang des Institutes wird, ähnlich jener am Eichengrün-Platz, durch die Sitzposition der Besucherinnnen, eine andere durch ein bewusstes Knopfdrücken in Betrieb gesetzt.

Gerade weil Dischereit in ihrer Kunstproduktion so viel über das Verhältnis von Ort/ZuhörerIn/Erzählerin/Erzählung nachdenkt, stellt sich die Frage, was denn mit ihren Texten durch die Verschiebung in den israelischen Kontext passiert. Hier dient die Ausstellung auch dazu, Bericht darüber zu erstatten, wie in Deutschland heute Formen des Umgangs mit der Schoah gefunden und jüdische Stimmen gehört werden können – dies erfuhr ein für den Rahmen außergewöhnlich großes anerkennendes Interesse durch die israelische Medienöffentlichkeit.

Teil der Ausstellung sind aber nicht nur die Textbildtafeln und Hörstationen, sondern auch eine Glasvitrine mit Informationsmaterial im selben Grün wie die Tafeln. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich dabei jedoch um Werbematerial des Institutes, Sprachkurse, die gebucht werden können, Deutsch-Werbesticker mit der Aufschrift „tschüss“ verbinden sich als weiteres Textfragment ganz seltsam mit Dischereits Texten.

Diese Vitrine hat eine ähnliche Funktion wie die Bistrotische und Sonnenschirme am Platz in Dülmen: den Alltag (hier eines Sprachinstitutes) schaffen, in den hineingeflochten Dischereits Interventionen des Erinnerns wirken. Nicht die Vitrine stört das kontemplative Lesen und Hören der Texte, sondern diese stören den Alltag des Erlernens deutscher Sprache in Jerusalem auf produktive Weise durch Unterbrechung und Entverselbstständlichung – und dadurch wird selbst die kleine Schau in der Rehov Sokolov 15 zu einem eigenen Statement.

■ Zu den Autoren: Die Wiener KünstlerInnengruppe ritesinstitute (Friedemann Derschmidt, Karin Schneider) beschäftigt sich seit 2005 mit dem Transfer israelisch-österreichischer Kunst und der Visualisierung von Erinnerung.

■ Ausstellung im Goethe-Institut Jerusalem, bis zum 2. Oktober.

■ Esther Dischereit: „Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus. Eichengrün-Platz Dülmen“. Musik Dieter Kaufmann, Sprecher Harvey Friedman, Corinna Kirchhoff. 2 CDs, Aviva-Verlag 2009. www.eichengruen-platz.de