Denken in Zeiten der Krise

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Wer klärt den Markt über sich selbst auf? Wie lässt er sich neu denken? Die Zeitschrift „agora42“ bemüht sich um einen kritischen Dialog zwischen Wirtschaft und Philosophie. Auf der Suche nach Alternativen zum Status quo bleibt sie allerdings manchmal etwas zu zaghaft

Viele Überlegungen kann man gutheißen, überraschende Gedanken bleiben jedoch die Ausnahme

Der Augenblick hätte nicht besser gewählt sein können. Vor einem Jahr, inmitten der globalen Wirtschaftskrise, erschien das erste Heft von agora42, einem Magazin für „Ökonomie, Philosophie, Leben“. In gewisser Hinsicht das Thema der Stunde. Ringsum ist das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Markts zerrüttet, der Kapitalismus als Wirtschaftsform hat seinen Kredit kräftig verspielt, längst schon wird sein Ende beschworen. Die Krise des Euros ist nur der jüngste Anlass, um sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen, was mit dem markt- und finanzwirtschaftlichen Ordnungsrahmen der Industrieländer nicht in Ordnung ist. Eine Neugründung wie agora42 kann man allein aus diesem Grund schon begrüßen.

Das kleine Team um Chefredakteur Frank Augustin hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, die gegenwärtigen Bedingungen des Wirtschaftens einer gründlichen Reflexion zu unterziehen und allgemein verständlich über Fragen wie Gerechtigkeit oder Wachstum nachzudenken. Die monothematischen Hefte erscheinen alle zwei Monate, für die beiden jüngsten Ausgaben lauten die Überschriften „Der Faktor Zeit“ und „Ich – Ausgeburt des Marktes?“ Es geht, so die Titelbotschaft, um fundamentale Fragen und Begriffe, um den Platz des Wirtschaftens im Leben, real und ideal.

Der Aufbau der Hefte ist stets ähnlich: In einem redaktionellen Teil wird mit kurzen Essays allgemein ins Thema eingeführt, im Hauptteil gibt es Gastbeiträge und Interviews. So liefert die „Zeit“-Ausgabe zunächst einen Abriss über philosophische Zeitkonzeptionen, um in Augustinus’ Bekenntnis zu münden: „Was ist also ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ Dieses Plädoyer für die Undefinierbarkeit von Zeit taucht auch im Beitrag der philosophischen Beraterin Ina Schmidt auf, die eine „andere Ökonomie der Zeit“ propagiert, wozu sie Anleihen bei den Kollegen Georg Simmel und Henri Bergson macht. In Zeitfragen sind sich fast alle Autoren einig über die Wichtigkeit von Entschleunigung, einen Begriff, den lediglich der Wissenschaftstheoretiker Peter Finke dahingehend präzisiert sehen möchte, dass man nicht pauschal eine Entschleunigung aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche fordern kann. Finkes Beitrag steht damit leider symptomatisch für das Gros der Texte im Heft: Viele Überlegungen kann man nachvollziehen und gutheißen, überraschende Gedanken bleiben jedoch die Ausnahme. Und auch der Klagenfurter Philosophieprofessor Peter Heintel landet bei seiner Perspektivumkehrung „Geld ist Zeit“ am Ende bei der sympathischen, aber mäßig originellen Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, um die Zeit vom Geld zu entkoppeln, wie es in der Lohnarbeit der Fall ist.

Kontroverser geht es im aktuellen „Ich“-Heft zu. Schon der Journalist Jörn Klare schließt in seinem Abriss zu „Menschenwertberechnungen“, die von Land zu Land recht unterschiedlich ausfallen, mit einem so schlichten wie radikalen Gedanken: Wenn man allen Menschen einen einheitlichen monetären Durchschnittswert zugestehen würde, käme dies einer globalen Umverteilung gleich, und zwar eindeutig zugunsten der Entwicklungsländer. Konträre Positionen zum Egoismus vertreten der Präsident der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis, Thomas Gutknecht, und der Hannoveraner Philosoph Bernhard H. F. Taureck. Während Gutknecht für starke Ichs eintritt, die zur Selbstliebe ebenso wie zur Verantwortung fähig, mithin „gesunde Egoisten“ seien, treibt Taureck im Rückgriff auf den Egoismus-Romantiker Max Stirner der Gefahr der Ichsucht ihre dämonischen Konnotationen aus, um sie als banales Phänomen hinzustellen, das nicht einmal für die Finanzkrise verantwortlich gemacht werden könne. Deren Akteure würden statt Ego- nämlich Klientelvorteile bedienen, womit dem „Wohl von Wenigen und dem Elend der Meisten“ gedient sei. Im Interview kann man die Umweltaktivistin Hanna Poddig kennenlernen, die für nichts weniger als eine Revolution eintritt. Poddig predigt einen anarchischen Individualismus und entpuppt sind dabei als äußerst gefestigtes Protestego, das auch vor Routineformeln wie „ ‚Radikal‘ bedeutet für mich, nicht die Symptome zu bekämpfen, sondern an die Ursachen heranzukommen“ keine Furcht hat. Ihre so befremdliche wie nachdenklich stimmende Entschlossenheit hebt sich von den akademisch eingehegteren Beiträgen deutlich ab. Interessant liest sich auch das Gespräch mit dem von Rudolf Steiner inspirierten Gründer des dm drogeriemarkts Götz Werner, der mit gebildetem Optimismus auf die Kraft des Denkens als Faktor der Veränderung setzt.

Doch auch bei diesem Heft wird man den Eindruck nicht los, dass ein akademisch braves gegenüber einem wirklich innovativen Denken überwiegt. Was schade ist, denn eigentlich würde sich agora42 bestens als das anbieten, was es dem Namen nach sein will: ein Forum für Fragen, die das Leben auf der Erde unter den Bedingungen der Wirtschaft fundamental neu denken und verstehen wollen. TIM CASPAR BOEHME

Agora42, 3/2010, 4/2010, je 7,90 Euro, www.agora42.de