Wir sind die Rocker von morgen

METAL In der Türkei gehören Rock und Metal längst zum Mainstream. Auch die deutsch-türkische Rockgemeinde in Berlin wächst stetig. Doch seit dem Ende der Stoneheads gibt es keine Berliner Band, die eigene Songs schreibt

Die meisten deutschtürkischen Rocker haben keine Zeit für eigene Kreationen

VON HÜLYA GÜRLER

Der Sänger von Paranormal zieht sein T-Shirt aus. Dann klettert er auf einen der umstehenden Tische. Das größtenteils aus Frauen bestehende Publikum schwingt die Arme mit. Es ist ein heißer Samstagabend in der Szenekneipe Exuma in Wedding. Fast alle kennen die Songs und singen mit. Die vierköpfige Rockband spielt hauptsächlich Coversongs – von moderaten, mainstreamfähigen Bands wie Mor ve Ötesi, Manga und Athena. Von türkischen Bands also, die im Eurovision Song Contest und im Berliner SO 36 aufgetreten und deshalb auch in Deutschland bekannt sind.

Daneben spielen Paranormal Stücke von bekannten Rocksängern wie Teoman, Sebnem Ferah, Haluk Levent und selbstverständlich den türkischen Rocklegenden der 70er und 80er Jahre: Baris Manco, Cem Karaca und Erkin Koray. Es ist eine eklektische Stilbreite aus Punk, Ska, Metal, Hip Hop und Anatolian Rock. „Ab und zu schmuggeln wir auch eigene Songs in unsere Auftritte rein“, verrät der erschöpfte Sänger Emrah nach dem Auftritt.

„Das Publikum bleibt dir aus, wenn du zu harte Musik spielst“, zieht Yalim Ergin Bilanz aus seiner 17-jährigen Arbeit als Rockmusiker. „Die meisten wollen nur hören, was ihnen vom Mainstream aufgetischt wird.“ Und der duldet keine harten und extremen Sachen.

Die Pioniere von Berlin

Yalim Ergin, der heute als Gitarrist bei Paranormal spielt, war früher Bandleader der Stoneheads. Die vier Mann starke Hardcoreband Stoneheads – auf Türkisch Taskafalar – hat zwei CDs herausgebracht: Auf ihnen gibt es harte Metalsongs, aber auch sanfte Balladen zu hören. Die Themen der Stoneheads sind Liebe, Trennung, schöne Frauen und Rassismus. Ihre Vorbilder Led Zeppelin, Deep Purple und Aerosmith. Lange galten die 1993 gegründeten Stoneheads als Pioniere des türkischen Rocks in Berlin. Ende des letzten Jahres lösten sie sich auf, weil die Mitglieder eigene Wege gehen wollten.

Immer mehr türkischstämmige BerlinerInnen hören Rock. „Das hängt auch mit der stetig wachsenden Szene in der Türkei zusammen“, glaubt Yalim. Und damit, dass heute Rockmusik im Gegensatz zu dem Bruch in den repressiven 80ern – der Zeit nach der Militärjunta – längst ein selbstverständlicher Teil des Mainstreams in der Türkei geworden ist. In vielen türkischen Großstädten wächst seit einigen Jahren eine Metalszene heran. Türkische Metaller treten mit langen Haaren, schwarzer Kleidung und mit Leichenlook-Bodypaint auf. Sie verwenden Symbole wie Pentagramm und Totenköpfe und werden deswegen oft pauschal mit Satanismus in Verbindung gebracht.

Der klassische Metallerstil ist undenkbar in der Berliner Community, wenn es nach Selime Sahin geht. Die eher kleine Frau mit dem Kurzhaarschnitt und Piercings fällt auf. Sie tanzt als eine der Ersten in der Exuma Lounge. Sie hat ihre Leidenschaft für Rockmusik mit 19 entdeckt. Danach nahm sie Gitarrenunterricht bei Olkay Sökmen von den Stoneheads. Die 23-Jährige ging auf die Suche nach einer Band und ist jetzt Sängerin in der – hauptsächlich aus Mehrheitsdeutschen bestehenden – Punkband Arsen. Die Gruppe singt über Drogen, Jugendgewalt und Vorurteile gegenüber Metallern und Punks. Sie trat letztes Jahr in Magdeburg auf. Ein Konzert in Berlin ist für September in Planung. Selimes Wunschrichtung ist melodischer Metal.

Eine große Zahl an Frauen – das ist in der türkischen Rock- und Metalszene ganz selbstverständlich. In der Türkei gibt es sogar mehr Frauenbands als in Deutschland. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass dort die Szene Freiräume für einen unverkrampfteren Umgang zwischen den Geschlechtern bietet, die in dieser Form sonst kaum existieren. Selbst wenn den Jungs in der Rock- und Metalszene weltweit manchmal der Ruf des Machismo anhaftet.

Auch Serkan Gümüsok, der Besitzer von Rockses, wollte einen Raum schaffen, in dem sich jeder frei bewegen kann, als er sein Café mit Rockambiente in der Oranienstraße in Kreuzberg aufmachte. „Unsere Gäste sind überwiegend Frauen.“

Wo sind die Kreativen?

Doch wo bleiben die deutsch-türkischen Rocker, die eigene Songs machen? „Viele Fans und Musiker sind in der größeren deutschen Szene untergetaucht“, weiß Yalim. Und der 34-jährige gelernte Dachdecker Serkan glaubt, dass „die meisten Rocker keine Zeit für eigene Kreationen“ haben. „Die müssen arbeiten.“ Womit zusammenhängt, dass „das Rockses sich auf die Dauer nicht trägt, weil hier eh nur am Wochenende viel los ist. Wir wollen in der neuen, größeren Location jeden Tag aufmachen.“

Eine Gruppe mit eigenen Songs, die hin und wieder in Berlin auftritt, ist diVan aus Saarbrücken. Sie stehen in Sultanskostümen auf der Bühne und mischen Rock – in der Anfangsphase 1998 sogar Metal – mit anatolischen Melodien. Gültekin Kaan Kaynak, der Bandleader, sieht sich in der Tradition der „orientalischen Märchenerzähler“. Er schreibt seine Songs selbst. Sie handeln meist von Geschichten und Gleichnissen, die einen aktuellen Bezug haben, sagt er. Für ihn ist die „Coververliebtheit“ der Szene ein „totaler Kreativitätskiller“. Der Mainstream der türkischstämmigen Berliner Community scheint nicht anders als der Mainstream der Mehrheitsgesellschaft auf bereits Bekanntes zurückgreifen zu wollen – in diesem Fall eben auf türkische Covermusik.