Mangel an historischer Bildung

FALSCHE VERTRIEBENE Wie Erika Steinbach und Co die Aussöhnung mit Polen torpedieren: Eine Diskussion mit Tomasz Szarota in Frankfurt

Von Versöhnungsbereitschaft kann Szarota nicht einmal ein Minimum erkennen

Der polnische Historiker Tomasz Szarota war der Erste, der aus dem wissenschaftlichen Beraterkreis der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ austrat, im Dezember 2009. Auf Einladung des Fritz-Bauer-Instituts referierte er letzte Woche in Frankfurt am Main über den „Begriff der Vertreibung als falschen Sammelbegriff“. Zunächst unterstellt der Begriff „Vertreibung“ eine Art Unschuld aller Betroffenen in einer fiktiven Stunde null. Das ist eine geradezu groteske Vereinfachung. Denn vor der Vertreibung gab es einen sechsjährigen Krieg mit furchtbaren Verbrechen an Polen – jüdischen und nichtjüdischen.

Die ersten Opfer von Vertreibung waren polnische Juden, die nach dem Ribbentrop-Molotow-Pakt zur Aufteilung Polens vom 22. 5. 1939 Ende September von der deutschen Wehrmacht aus dem von ihr besetzten Teil Polens in den sowjetisch besetzten vertrieben wurden. Und den Krieg hat nicht Polen begonnen, sondern es mobilisierte – nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei im Oktober 1938 und der deutschen Besetzung des Memelgebiets im März 1939 – unter der akuten Bedrohung durch Nazideutschland einen Teil seiner Streitkräfte.

Im Gespräch verdeutlichte Szarota seine Position im Fall Steinbach. Nur deren Hobbyhistoriker Arnold Tölg und Hartmut Saenger leiten aus der dem deutschen Überfall auf Polen vom 1. 9. 1939 vorangegangenen polnischen Notwehr eine Mitschuld Polens am Zweiten Weltkrieg ab. Obendrein verteidigt Erika Steinbach die beiden Amateure mit dem Hinweis, man habe deren Zitate aus dem „Zusammenhang“ gerissen. Der 1940 geborene Tomasz Szarota sieht solche „Erklärungen“ als Machwerk intellektueller Kretins und politischer Brandstifter, wie er – emotional aufgewühlt – durchblicken lässt.

Bei dem 70-Jährigen wecken die späten Propagandamanöver der Berufsvertriebenen Erinnerungen an sein Studium in Köln 1974. Er wohnte in einem Studentenheim, das von einem Opus-Dei-Mann geleitet wurde, dessen kommunistenfresserische Studenten meinten, den Kommilitonen Szarota, der kein Kommunist war, darüber aufklären zu müssen, dass die Morde von Katyn nicht auf das Konto von Hitlers Wehrmacht, sondern auf das von Stalins Geheimdienst gingen. Darüber kann der Mann heute nur noch lachen, denn das wusste in Polen schon damals jedes Kind – im Unterschied zu den durch den Kalten Krieg intellektuell verbiesterten jungen Katholiken in Köln.

Bei einem Besuch mit seiner Mutter Elida Maria Szarota – einer international renommierten Spezialistin für deutsche Barockliteratur – traf Szarota Ende der 70er Jahre den deutschen Historiker Werner Conze in Heidelberg. Dessen Söhne besuchten damals die Odenwaldschule wie über 60 Jahre zuvor Elida Maria Szarota. Ein Besuch in „ihrer“ alten Schule endete chaotisch: Ihre Bitte um einen Löffel beantwortete einer der Schüler aus der neudeutschen Elite, indem er der polnischen Gelehrten das Besteck buchstäblich zuwarf.

Nicht nur in den Attacken von Steinbachs Hausburschen vom Bund der Vertriebenen, sondern auch in diesem Erlebnis sieht Szarota einen Mangel an historischer Bildung und die Weigerung, die Erfahrungen des Anderen wahrzunehmen. Von Versöhnungsbereitschaft, mit der die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in ihrem Namen auftrumpft, können aufgeklärte Polen wie Szarota nicht einmal ein Minimum erkennen.

(...)

Szarota merkt man in jeder Sekunde an, wie notwendig und wichtig ihm eine Versöhnung zwischen Deutschen und Polen erscheint und wie stark „falsche Vertriebene“ (Szarota) wie Erika Steinbach diesen Prozess sabotieren. Es ist ein zweifelhaftes Verdienst von Erika Steinbach, die nationalkonservativ orientierten Polen zu vereinen gegen jene polnischen Intellektuellen und Politiker, die das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig europäisch-aufgeklärt und nicht borniert-national gestalten möchten. RUDOLF WALTHER