Vom vergnügten Dahingleiten

NACHRUF Sie war eine großartige Schwarz-Weiß-Fotografin, gerade weil sie schwarz-weiß weder dachte noch argumentierte. Und sie schuf zarte, intime Alltagsszenen aus Ostberlin. Sibylle Bergemann ist tot

Berühmt wurde die Serie, in der Bergemann das Entstehen der Marx-Engels-Skulptur dokumentierte. Wie fette Putten hängen die kopflosen Philosophen da im Himmel

Am 10. November wird im Babylon-Kino, in Berlin-Mitte, der Film „Mein Leben“ Premiere haben. Diejenige, der das Porträt gilt, wird nicht mehr dabei sein. Sibylle Bergemann, die große Berliner Fotografin, ist in der Nacht zum Dienstag in ihrem Haus in Margaretenhof bei Gransee einem Krebsleiden erlegen.

„Ich sehe mich auch heute noch eher als Schwarz-Weiß-Fotografin. Es war in der DDR schließlich kompliziert, in Farbe zu fotografieren“, hatte sie vor einem Jahr im taz-Interview anlässlich einer Ausstellung der von ihr 1990 mitbegründeten Agentur Ostkreuz. Sie war weiß Gott eine große Schwarz-Weiß-Fotografin, selbst dann noch, als sie sich nach der Wende, als Fotoreporterin von Geo, Stern, Spiegel oder dem New York Times Magazine als großartige Farbfotografin entpuppt hatte. Einfach weil sie nie schwarz-weiß fotografiert, das heißt schwarz-weiß argumentiert hat.

Sibylle Bergemanns Fotografien sind vielschichtig. Ihre Ironie kommt lapidar daher, und gerade die Bilder, die am Ende etwas verrätselt wirken, sind gleichzeitig in einem frischen, beschwingten fotografischen Duktus in Szene gesetzt. „Sie kann schreiben mit nahezu nichts“, bemerkte der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom über Sibylle Bergemann. Es erstaunt also nicht, dass die 1941 in Berlin geborene Fotografin zunächst als Modefotografin für die DDR-Zeitschrift Sibylle bekannt wurde. Mit wenigen Mitteln dem großen Drama die Bühne zu bereiten, das ist das Vermögen der Modefotografie. Sibylle Bergemann setzte dafür auf die Porträtstudie ihrer Models, deren Persönlichkeit sie noch vor deren Pose festhielt.

Ihre Porträtkunst begründete denn auch ihren Ruf, neben ihren Szenen aus dem Ostberliner Alltag. Berühmt geworden ist die Serie, in der sie zwischen 1975 und 1986 das Entstehen der Marx-Engels-Skulptur und schließlich deren Aufbau auf dem gleichnamigen Forum in Berlin dokumentierte. Wie fette Putten hängen die kopflosen Philosophen da im Himmel. Nach der Wende war sie mit ihrem Lebensgefährten, dem Fotografen Arno Fischer, eine der MitbegründerInnen der Agentur Ostkreuz, die nach dem Autorenprinzip funktioniert und es doch auf hohem künstlerischen und handwerklichen Niveau schafft, wirtschaftlich rentabel zu arbeiten. Damals überraschte Sibylle Bergemann auch durch mitreißende Farbreportagen aus New York, Rio de Janeiro oder Dakar.

Am eindrücklichsten aber bleibt sie mit ihren zarten und intimen Alltagsszenen Ostberlins. „Marzahn, Springpfuhl, 1980“ etwa ist eine solche kleine Ikone. Vor dem Hintergrund der Wohnsilos tummelt sich ein Dutzend dunkel gekleideter Schlittschuhläufer auf einer Eisfläche. Trotz des nicht gerade berückenden Settings drängt sich beim Betrachten unwillkürlich das Wort Vergnügen auf. Denn die Fotografie erzählt ganz unkompliziert eine altbekannte Geschichte. Sie handelt davon, wie die Menschen die kurze Zeit des Eises, die die Eintönigkeit ihres Alltags unterbricht, nutzen; wie sie den unverhofften Spaß des beschwingten Dahingleitens genießen. Selbst die Häuser blicken heiter in die Gegend. Ganz unerwartet schick schauen sie aus, in der fernen Perspektive, die Sibylle Bergemann mit ihrem Kamerastandpunkt gewählt hat, und der gegenüber den Eisläufern nur leicht erhöht liegt. Es ist das Bemühen einer allzu oft vergessenen, freundlichen, unbedarften Moderne um Komfort und Wohnluxus auch für breite Bevölkerungsschichten, das sie da für uns wiederentdeckt.

BRIGITTE WERNEBURG